Heute wären solche Schriften nur noch von geschichtlichem Interesse, aus heutiger Sicht neues Wissen würde wohl nur insofern zu erwarten sein, als dass einige Lücken in der Geschichtsschreibung gefüllt werden könnten. In Hinblick auf insbesondere die Philosophen des alten Griechenlands dürfen wir den Arabern besonders dankbar sein. Ohne sie hätten wir wohl kaum brauchbare Überlieferungen Aristoteles' und Co. Bei Überlieferungen von Texten dürfen wir nicht vergessen, dass die Originaltreue mit der Anzahl (halbwegs) zuverlässiger und voneinander unabhängigen Abschriften zunimmt und dass kaum ein Text die Antike auf einem einzigen physischen Medium überlebt hat. Heute mit dem Gedanken konfrontiert, es gäbe Aristoteles nur noch als Namen eines Philosophen, ohne zu wissen, was genau er schrieb, ist das eine traurige Vorstellung. Etwa genauso traurig wie die Namen jener Autoren, von denen wir auch heute nur den Namen und ungefähr den Zeitraum und Ort kennen. Entsprechend wütend machen mich dann auch die mutwilligen Zerstörungen solcher Texte.
Ob wir heute wirklich wirklich vor solchem Verlust bewahrt wären? Wir dürfen nicht vergessen, dass wir hier von ganz anderen Zeiträumen sprechen als von '33 bis heute. Das ist ja nichts im Vergleich auch nur der Spätantike bzw. ihrem Übergang zum Frühmittelalter. Einem Zeitraum, in dem in Europa wohl sehr viel verloren ging. Alles nur digital Vorhandene wird untergehen, daran besteht für mich wenig zweifel. Grundsätzlich unterliegt ein digitaler Text denselben Problemen wie ein gedruckter oder geschriebener Text: Ohne Pflege, ohne jemanden, der diesen Text als wichtig erachtet und ihn von einem Datenträger auf den nächsten kopiert, von einem Format ins nächste, oder der das Archiv von Texten pflegt, geht der Text verloren. Dieses Schicksal wird sicher die meisten der heute verfassen Texte ereilen, insbesondere solche, die nur flüchtig im Internet verfasst werden. Was alleine wir oder andere Forenschreiber die letzten 10 Jahre an Texten im Internet verfasst haben, sicher auch gerne mal mit einigermaßen originellen Gedanken - wie viel ist davon jetzt noch auffindbar, irgendwie vorhanden oder bereits endgültig weg? Letztendlich ist ein Forum auch nur auf einer Server-Festplatte, einem mehr oder weniger zuverlässigen Backup-System und einige Zeit lang in den Köpfen der Autoren und Lesern.
So viel auch zur Zuverlässigkeit mancher Überlieferungen. Wie viele Jahre sind vergangen zwischen den angeblichen Dialogen Sokrates' und ihrer Verschriftlichung durch Platon? 40 Jahre? So alt sind die meisten hier nicht einmal, und anwesend war der gute Herr selbst auch nicht. Das ist vergleichbar mit: Wir erzählen unseren Kindern in 20 Jahren, was wir vor 10 Jahren in Internet-Foren diskutiert haben und unsere Kinder schreiben wiederum 10 Jahre später ein Buch darüber, das den Anspruch erhebt, die damalige Wirklichkeit wiederzugeben.
Aber zurück zum Thema. Sollte es wirklich eine auch nur annähernd globale Katastrophe geben, werden viele Texte unser heutiges Zeitalter nicht überleben. Wie viele Bücher und wissenschaftliche Publikationen sind nur in der Deutschen Nationalbibliothek vorhanden? und sonst nur in ein paar verstreuten Haushalten? Haushalten, die über Generationen hinweg aufgelöst und neu gebildet werden? Welchen Bücherbestand übernehmen wir denn auch nur von unseren Eltern und Großeltern? Landet nicht das meiste auf dem Dachboden und dann spätestens eine Generation später auf dem Müll? Selbst auf tausende von Haushalten würde ich nicht zählen, wenn es über einen Zeitraum mehrerer hundert Jahre geht. Und erst ab dieser Zeitspanne wird es ja wirklich relevant. Wenn das Erinnern aussetzt, große soziale, politische und neuerdings auch technologische Entwicklungen stattgefunden haben.
Wir müssen wohl damit leben, dass Zeit vergeht und wir sie und die Gedanken der Menschen einer Zeit nur unzureichend festhalten können, um sie uns zukünftig wieder vergegenwärtigen zu können. Und obwohl uns viele Texte aus allen Zeitaltern nicht überliefert sind, waren sie doch in den seltensten Fällen vergebens. Die meisten wurden ja dann doch gelesen, konnten wirken, eben weil sie gelesen wurden, teilweise auch rezipiert wurden.
Wären wir heute weiter ohne - letztendlich - das Mittelalter? Sind wir überhaupt wesentlich weiter als damals und was soll weiter überhaupt bedeuten und bringen? Wir betreiben Wissenschaft, schaffen Wissen - reicht das nicht? Als ob wir nicht bereits vorhandenem Wissen nachtrauern müssten, das rein hypothetisch ist. Die wirklich großen Probleme der Menschheit liegen sowieso nicht in wissenschaftlich lösbaren Bereichen, sondern im Wesen des Menschen selbst. Wollen wir also wirklich der Ultra-Super-Bombe nachtrauern, die wir nach dem Verlust so vielen Wissens vielleicht erst in 200 Jahren erfinden?
Dass Texten eine unmittelbare Wirkung durch sie selbst zukommt, ist doch eher selten; gerade heute werden wegweisende wissenschaftliche Texte den meisten Menschen nicht dadurch bekannt, dass sie sie selbst lesen, sondern dadurch, dass sie darüber lesen. Wer hat schon Einstein gelesen? Wir sollten uns einfach vom Gedanken verabschieden, die gegenwärtigen Gedanken auf ewig festhalten zu können. Leider steht demgegenüber die unterschwellige Ansicht, dass Vergangenes ohne Überlieferung nicht ist, also niemals stattgefunden hat. Wenn wir vergangenen nicht überlieferten Gedanken nachtrauern, dann weil sie uns vorführen, dass von uns im Laufe der Geschichte letztendlich nichts mehr übrig bleibt. Wie lange wird wohl Aristoteles noch leben? Als herausragender Philosoph, und noch dazu als einer weniger überlieferten Philosophen seiner Zeit, werden seine Gedanken vielleicht länger nachvollzogen als die vieler neuzeitlichen Philosophen, Geschichtsschreiber und Wissenschaftlicher, die wir heute als unersetzbar und prägend für unsere heutige Epoche erachten.
Warum schreiben wir hier, weshalb schreiben Autoren überhaupt, außer um Geld zu verdienen? Um bis in alle Ewigkeit bekannt zu sein? Angesichts der allseits bekannten Widrigkeiten der Überlieferung wäre das arg vermessen, selbst für die Besten. Wenn wir das Schreiben und damit auch den Text an sich erheben, dann wurde tatsächlich kein Text jemals vergeblich geschrieben. Und auch unsere Texte hier im Forum werden nicht enden als trauriges Unbekanntes, obwohl sie sicher eine im Vergleich zu jedem mäßig erfolgreichen Autor mittelhochdeutscher Romane bescheidene Haltbarkeit aufweisen werden. Es genügt doch, dass wir sie schreiben, ein paar Menschen sie lesen und darüber nachdenken. Ist das jetzt traurig? Weshalb sollte es in zweitausend Jahren traurig sein?
Ich hoffe, ich habe das Thema zumindest ausreichend gestreift. Gute Nacht.