Re: Kurze Wahlprognose
Postmortem-Analyse: Warum AfD?
Weil das kurz im Chat aufgeschlagen ist, und ich den allgemeinen Konsens des "Rechtsrucks" in Deutschland nicht teile, erklär ich mal meine Analyse, warum die AfD so hoch gekommen ist.
Deutschland hat derzeit mehrere Probleme, die Flüchtlinge sind nur eines davon und das Geringere, aber ein Indikator und Kristallisationspunkt. Gleich vorweg: Mir ist bewusst, dass die meisten Flüchtlinge froh sind, aus dem Bombenhagel weg zu sein und einfach nur nachts ohne Angst schlafen wollen, da ist ihnen auch egal, wo. Kriminelle gibt es unter Flüchtlingen nicht mehr oder weniger als in jeder anderen ethnischen Gruppierung.
A) Unterscheidungspunkt Flüchtlinge/Migranten
Aktuell wird da in der Politik nicht unterschieden. Das ist ein Fehler. Migranten wollen in Deutschland leben, weil sie dort wirtschaftlich/sozial Wurzeln fassen wollen. Integration ist hierfür zentrale Notwendigkeit. Flüchtlinge sind in Deutschland, weil sie überleben wollen. Das ist ein Menschenrecht und als Solches unantastbar (über Sinn und Unsinn bei Extremfällen können wir woanders diskutieren, das tut hier nix zur Sache). Sie müssen sich
nicht integrieren, sie warten nur ab, bis sie ohne Lebensgefahr wieder zurück in ihre Heimat können. Zwei Gruppierungen, zwei diametral verschiedene Ziele. Natürlich gibt es da Überschneidungen, aber im Prinzip kann man da eine harte Trennung fahren. Abgesehen davon wurde das Management völlig vergeigt.
B) Jobunsicherheit
Rot-Grün und auch die GroKo haben in den letzten Jahren starken Raubbau am Arbeitnehmerschutz betrieben, was viele Menschen an den Existenzrand gedrängt hat. Das gilt nicht nur für ungebildete/ungelernte Arbeitskräfte, sondern auch für Akademiker etc. Befristete Verträge und die Möglichkeit, sie ewig erneut zu befristen, nimmt Planungssicherheit und führt zu einer ständigen Bedrohung der geschaffenen Werte, was die Binnenwirtschaft schädigt. Die Flexibilität am Arbeitsmarkt ist dabei gar nicht notwendig, im Gegenteil: Die Finanzkrise 2007 hat Deutschland nur deshalb nicht so hart getroffen, weil wir sehr statische Beschäftigungsverhältnisse hatten. Jetzt (und da kommt Punkt A ins Spiel) Flüchtlinge in Beschäftigungsverhältnisse zu drücken, verschlimmert den Trend, insbesondere für ungelernte Arbeitskräfte und Akademiker (Facharbeiter sind weniger betroffen, wegen der Sprachbarriere und der sehr speziellen Art der deutschen Ausbildung - beides fällt bei Akademikern weg).
C) Arbeitskräftemangel/Burnout
Insbesondere soziale Berufe haben das Problem, beschissen bezahlt zu werden und asoziale Arbeitsbedingungen zu finden. Das wird weiter verschärft, indem aktuell das Anforderungsprofil an Pflegekräfte (zum Beispiel) stark verschärft wird (Abitur, aktueller Trend: Studium). Wir verheizen aktuell unsere sozialen Arbeitskräfte und verhindern aktiv, dass andere soziale Menschen sie entlasten können. Das strahlt auch in die Gesellschaft hinein - die wird aktuell immer rücksichtsloser.
D) Wohnungsmangel
Das Problem haben einige deutsche Städte, allen voran München und wohl auch Berlin. Der soziale Wohnungsbau ist teuer und wurde in den letzten Jahren stark zurückgefahren, entsprechend problematisch ist es für Arbeitskräfte (dank der zudem niedrigen Reallöhne), in der Stadt eine Wohnung zu finden. Oder im Umland. Die Schere zwischen Arm und Reich geht hier besonders deutlich auseinander.
E) Rentenunsicherheit
Die vergangenen Regierungen haben das Rentenalter immer weiter erhöht und die Rente selbst nie wirklich erhöht. Das betrifft insbesondere die Schwachen der Gesellschaft, und vor Allem den Osten Deutschlands. Diese vergessenen/ignorierten Menschen sehen jetzt, dass Geld da wäre, es aber nur für Flüchtlinge ausgegeben wird. Ironischerweise ist es hier der linke Flügel, der das besonders tragisch macht, weil bei Unterkünften für Flüchtlinge teilweise Mindeststandards angelegt werden, die weit über dem eines durchschnittlichen "Problemviertels" sind. Wir könnten mit dem gleichen Geld die 3-4fache Menge an Menschen aufnehmen, wenn man die Standards senken würde: Es reicht ein warmes Dach über dem Kopf, Essen, Kleidung, Gesundheit und Sicherheit (wegen mir auch noch Internet/Telekommunikation). Das kann auch ein Container oder Zelt mitten in der ostdeutschen Pampa sein. Niemand hat was von frisch renovierter Wohnung mit Zentralheizung in zentraler Lage gesagt.
F) Politische Korrektheit
Gender-/Inklusionsdebatte und der Trend, alles und jeden sofort zum Nazi zu erklären, wenn er nur einen Vorschlag bringt, der eventuell mal durch einen Nazi gebracht wurde, vergiften das politische Leben. Dabei wird übersehen oder bewusst ignoriert, dass auch die Nazis gute Seiten hatten (mussten sie haben, sonst wären sie nie an die Macht gekommen und sicher nicht dort geblieben). Eine gesunde Gesellschaft streitet auch miteinander, und das geht mir weitestgehend ab. Im Kanzlerduell ist diese obszön zur Schau gestellte traute Harmonie aller Beteiligten wohl einigen anderen auch aufgefallen (ich wusste das vorher und hab mir den Scheiß deshalb gar nicht erst angeschaut). Irgendwo hab ich mal gesagt, dass die Gesellschaft aktuell oberflächlich so pervers auf Harmonie getrimmt ist, dass wir Arschlöchern nicht mehr sagen dürfen, dass sie welche sind, und entsprechend viele laufen deshalb auf unseren Straßen rum, weil keinerlei gesellschaftlicher Druck sie in die Anpassung und Rücksichtnahme drängt.
G) Europa & die Politik durch die Hintertür
Alles, was unsere Politiker wollen und in Deutschland nicht durchbekommen, wird über den Umweg Europa gemacht. Die Leute sind nicht blöd, die haben das mittlerweile schon auch erkannt, spätestens mit CETA/TTIP und dem Rettungsschirm für Griechenland. Banken müssen gerettet werden, weil sie sich verzockt haben? Europa zur Hilfe. Wer zahlt? Der Bürger. Wer wird nicht gefragt? Ebender. Das zerstört das Bild, das wir von Europa haben sollten, als ein harmonischer, starker Staatenbund und baut Europa zu einer Bedrohung für die nationalstaatlichen Interessen auf, die der kleine Mann als seine eigenen sieht.
H) Lügenpresse & verlogene Politik
Wir werden angelogen. Ganz massiv. Die ständige Hetze gegen Russland ist ebenso Quatsch wie die Vergötterung von allem, was den USA in den und aus dem Arsch kriecht. Die Leute sind nicht blöd (siehe oben). Und mit dem Internet können sie sich informieren (dass da natürlich auch viel Scheiß drin steht, hat ja auch schon Aristoteles gesagt
). Dazu haben die meisten Leute erkannt, dass die Politik der etablierten Parteien völlig unabhängig von Wahlversprechen und Parteiprogramm ist - am Ende geht es nur um die eigenen Taschen. Da fallen dann auch mal so Sätze wie "Ich bleibe dabei: Daß wir oft an Wahlkampfaussagen gemessen werden, ist nicht gerecht." So vertreibt man Wähler.
...und da kommt die AfD. Eine Partei, die sich um das politische Korrektheits-Porzellan kein bisschen schert, Flüchtlinge als Schmarotzer bezeichnet, ein paar Tränen mit den armen Rentnern und Geringverdienern weint und auf die Großen Parteien sowie Europa und die Presse schimpft.
Wem glaubt man, dass ein ungezügelter Zustrom von Migranten (!) beendet wird? -> einer offen rassistischen Partei
Wem glaubt man, dass die Steuern für Geringverdiener sinken? -> einer Partei, die offen für einen schlanken Staat eintritt
Wem glaubt man, dass Europa sich weniger in nationalstaatliche Interessen einmischt? -> einer Partei, die offen gegen Europa ist
Wem glaubt man, dass die Wahlversprechen ehrlich sind? -> einer Partei, die selbst die taktisch unklügsten Äußerungen offen zur Schau trägt
Wen wählt man, wenn man den ganzen anderen Arschlöchern mal zeigen will, dass es auch ohne sie geht? -> diejenigen, vor welchen die Arschlöcher am meisten Angst haben.
Das alles bündelt die AfD. Und die Tatsache, dass sie im öffentlichen Diskurs immer auf ihre rechten Thesen reduziert werden, macht die Sache grad nicht besser. Aber sie könnte uns einen Vorteil bringen: Wenn Union und SPD jetzt weiter nach rechts rücken, und die FDP sowie die Grünen mit in den Abgrund reißen, haben wir hoffentlich bald mal ein Parlament, das nicht mehr einfach so durchregieren kann.