Berg der Einsamkeit
Es war einmal ein Berg. Tatsächlich waren da sogar mehrere. Auf diesem bestimmten Berg stand ein Mann und er war allein. Er war aber nicht ganz allein, denn die Wolken über ihm leisteten ihm Gesellschaft. Eines Tages beschloss der Mann einer jeden Wolke einen Namen zu geben. Nach 100.000 vergangen Jahren, in denen er die Wolken benannte, wurde er es leid, also änderte er seine Meinung. Nach weiteren 10.000 Jahren, in denen er keiner Wolke einen Namen gegeben hatte, überlegte er sich, die Regentropfen, die die Wolken produzierten, mit Namen zu versehen. Nach 50.000 Jahren in denen er allen Regentropfen einen Namen gegeben hatte wurde es ihm lästig und er hörte wieder damit auf. Der Mann starb aber fast vor Langeweile und so hatte er nach weiteren 5000 Jahren die Idee, er könne doch den Sandkörnern und Schmutzpartikeln, die auf dem Berg herumlagen Namen geben. Dies machte er für weitere 25.000 Jahre, bis auch diese Tätigkeit ihn unsäglich langweilte. Also beschloss er, mit dem Benennen der Sandkörner und Schmutzpartikel aufzuhören.
Nachdem wieder 10.000 Jahre vergangen waren, in denen er nichts und niemandem einen Namen gab, wurde er wieder ein Opfer der Langeweile. Er entschied daher, dem Berg, auf dem er stand, einen Namen zu geben. Der Mann dachte über diesen Namen 20.000 Jahre nach, dann stand seine Entscheidung fest: „Berg der Einsamkeit“. Er war sehr zufrieden mit diesem Ergebnis und beschloss, nun schlafen zu gehen. Er war sehr müde und schlief 5000 Jahre lang.
Als der Mann erwachte, stand eine Frau neben ihm. Der Mann war überrascht und rieb sich die Augen. Nie zuvor hatte er eine Frau gesehen. Bisher hatte er nur die Wolken über Frauen reden gehört, denn die Wolken flüsterten ihm Geschichten zu über das Leben, Männer und Frauen. Die Frau sprach:
„Wie heißen Sie?“
Der Mann schaute sie enttäuscht an. „ Ich vergaß, mir einen Namen zu geben. Ich bin DER MANN.“
„Es gibt viele Männer“, lachte die Frau und lächelte freundlich. „Jeder hat einen Namen. Sie müssen auch einen haben.“
Der Mann antwortete: „Wenn Sie sagen, jeder hat einen Namen, dann stimme ich ihnen zu, dass ich auch einen haben muss. Unglücklicherweise habe ich meinen vergessen, wenn ich denn jemals einen hatte. Wie lautet Ihr Name?“
„Theresa“, antwortete die Frau.
„Kann ich ihn haben?“
„Was haben?“, erkundigte sich Theresa.
„Ihren Namen“, antwortete der Mann.
Theresa lachte laut auf und lächelte freundlich: „Aber wenn ich Ihnen meinen Namen geben würde, hätte ich doch keinen mehr.“
„Ich verstehe. Vielleicht kann ich mir ja selbst einen Namen geben, ich habe schließlich vielen Wolken, Regentropfen, Sandkörnern und Schmutzpartikeln einen Namen gegeben – ja sogar diesem Berg, also sollte es sehr einfach sein, einen Namen für mich zu finden.“
„Das sollte man doch glauben“, Theres lachte und lächelte freundlich.
Der Mann setzte sich auf einen Felsen und suchte lange nach einem Namen für sich. Nach 20.000 Jahren war er endlich der Meinung einen guten Namen gefunden zu haben. Er sah sich nach Theresa um, um ihr seinen neuen Namen mitzuteilen, aber er konnte sie nirgends finden. Der Mann war sehr verärgert, dass nun, wo er doch einen eigenen Namen hatte, niemand da war, der ihn danach fragte, bzw. ihn niemand bei seinem Namen rief. 250.00 Jahre lang sann er darüber nach, wie er dieses Dilemma lösen könnte und schlief während dieser Zeit immer wieder ein. Sehr oft sprach er in dieser Zeit mit den Wolken und bat sie um Rat, bis – unglücklicherweise – nach 200.000 Jahren der Himmel plötzlich aufklarte und nicht eine einzige Wolke blieb, die ihm Gesellschaft leistete. Für weitere 50.00 Jahre blieb der Mann vollkommen allein.
Am Ende dieser Zeit kam ihm die Lösung: „Heute werde ich den Berg der Einsamkeit hinabsteigen bis ganz hinunter und nach Theresa Ausschau halten, denn ich möchte ihr meinen Namen verraten.“ Der Mann begann, den Berg herabzusteigen, als er bemerkte, dass die Wolken zurückgekehrt waren. Eine Sekunde lang dachte er darüber nach umzukehren, aber er entschied sich weiter nach unten zu gehen.
Der Mann hatte nie realisiert, wie hoch der Berg der Einsamkeit eigentlich war. Er dachte kurz darüber nach zum Gipfel zurückzukehren, aber entschied sich doch dagegen. Zwei Tage nach dieser Entscheidung sah der Mann etwas in der Ferne. Er war ziemlich überrascht jemanden zu sehen, da er erst auf halbem Weg nach unten war.
Beim Näherkommen erkannte er Theresa. „Theresa!“, rief er ihr entgegen. Theresa erkannte ihn auch und antwortete: „Hallo Mann!“.
Als sie sich begegneten sagte der Mann: „Ich bin gekommen, um Ihnen meinen Namen mitzuteilen.“
„Das ist ja wundervoll! Ich bin froh, dass sie jetzt einen eigenen Namen haben. Ich habe sehr lange darauf gewartet. Ich war viele Male auf dem Berggipfel, aber Sie haben jedes Mal geschlafen. Ich wäre gerne öfter gekommen, um Sie vielleicht wach anzutreffen, aber es ist ein sehr langer Weg bis hinauf zum Gipfel und wieder zurück. Bitte verraten Sie mir Ihren Namen!
„Ich habe sehr lange gebraucht, um mir einen Namen zu geben, ich kann nicht einmal sagen, wie lange ich darüber nachdachte, denn irgendwann vor langer Zeit habe ich das Zeitgefühl verloren. Ich dachte gerade darüber nach, den verstreichenden Sekunden Namen zu geben, aber ich war zu beschäftigt, die Regentropfen zu benennen, als mir dieser Gedanke kam. Daher hatte ich nicht die Möglichkeit, die Sekunden zu benennen.
Theresa sagte: „Das ist schon in Ordnung. Ich möchte nicht wissen, wie viele Gedanken Sie daran verschwendet haben, sich selbst den richtigen Namen zu geben. Ich möchte ihn einfach nur hören.“
„Ricky“, antwortete der Mann.
„Der Name gefällt mir. Sie haben sich selbst einen sehr schönen Namen gegeben, Ricky.“
„Ich danke Ihnen, Theresa. Ich kam nur deswegen hier herunter, um Ihnen meinen Namen zu sagen. Jetzt, wo Sie ihn kennen, werde ich wieder zum Gipfel vom „Berg der Einsamkeit“ zurückkehren.
„Ricky, wie wäre es, wenn Sie anstatt zum Gipfel Ihres Berges zu gehen, einfach mit mir ins Tal kämen?“
Was befindet sich am Fuß vom „Berg der Einsamkeit“?“
„Die gleichen Dinge wie oben: Wolken, Regentropfen, Sandkörner und Schmutz. Außerdem lebe aber auch ich im Tal und natürlich noch andere Frauen und Männer. Viele andere Dinge gibt es auch nur am Fuß des Berges und nicht auf seinem Gipfel.“
„Das hört sich nach den Dingen an, die mir die Wolken immer erzählt haben. Diese haben mir stets vom Leben, von Frauen und Männern berichtet.“
Theresa sagte: „Die Wolken wissen über alles Bescheid, denn sie haben schon alles gesehen. Es war eine Wolke die mir von Ihnen erzählt hat, deshalb habe ich Sie gefunden, bevor Sie sich einen Namen gegeben haben.
Ricky und Theresa setzten ihren Weg ins Tal fort. Ricky fragte: „Hat die Wolke Ihnen ihren Namen verraten?“
„Ja, Nachdem sie mir erzählt hatte, wie ich Sie finden könnte, und dass Sie oben auf dem Berg wären und allen Wolken einen Namen geben würden, sagte die Wolke, ihr Name sei Theresa.
„Das ist sehr interessant. Ich erinnere mich an diese Wolke. Es war die erste, die mir jemals Geschichten über das Leben zugeflüstert hatte. Ich nannte sie Theresa und dann erzählte sie mir, dass es noch eine andere Theresa geben würde und sie würde dieser Theresa von mir erzählen. Bis heute hatte ich diese Begegnung vergessen. Ich erinnere mich nicht mehr genau, wann es mir entfallen ist, aber ich glaube, es war zu der Zeit, als ich den Regentropfen ihre Namen gab. Ich würde sehr gerne die Wolke Theresa wiedersehen und ihr dafür danken, dass sie ihr Versprechen gehalten hat.
„Theresa antwortete: „Sie werden die Wolke nicht mehr finden. Sie wurde zu einigen der Regentropfen, denen Sie einen Namen gaben. Nun ist sie ein Teil des Flusses, der durch das Tal fließt. Dabei nimmt sie oft viele Sandkörner und anderen Schmutz mit, denen Sie Namen gegeben haben.“
„Es macht mich traurig, dass es die Wolke nicht mehr gibt“, stellte Ricky bekümmert fest.
„Die Wolke ist nicht verschwunden. Sie existiert weiterhin als Fluss, Flussbett und sie ist Teil von vielen anderen Wolken, die Sie jetzt sehen. Vor vielen Jahren kam ich auf den Gipfel, um sie zu suchen, aber da Sie schliefen, kehrte ich wieder um. Als ich dann wieder das Tal erreichte, kam ich fast um vor Durst. Der Fluss gab mir etwas Wasser und nur deshalb lebe ich noch.“
Ricky und Theresa redeten viel miteinander, während sie den Berg der Einsamkeit hinabstiegen. Als sie schließlich im Tal ankamen, waren sie sehr durstig und tranken das Wasser des Flusses.
Die beiden sahen sich noch viele Jahre lang und sprachen immer wieder miteinander und natürlich auch mit den anderen Frauen und Männern am Fuße des Berges. Und wenn Ricky nicht gestorben ist, dann erlebt er noch immer alle Geschichten, von denen ihm die Wolken einst erzählt haben.