Der Übervater der Türken, der aus den Trümmern des Osmanenreichs die moderne Türkei schuf, starb vor 80 Jahren. Die rücksichtslosen Reformen sollten die Einheit bringen und spalten bis heute.
Atatürk war der Sohn eines kleinen türkischen Beamten, der in der höheren Militärschule in Manastir genug Zeit für Lektüre fand und besonders fasziniert von der Französischen Revolution und den Idealen der Aufklärung war. 1899 wechselte Mustafa Kemal an die Kriegsakademie von Konstantinopel. Sechs Jahre später erhielt er eine Anstellung im Kriegsministerium. Im Gegensatz zu den Jungtürken hat Mustafa Kemal eine ehrgeizigere Vision: homogenen, europäisch ausgerichteten Nationalstaat, befreit vom orientalischen Ballast.
1909 probten die Jungtürken den Aufstand mit Erfolg. Sie erreichen die Absetzung des absolut herrschenden Autokraten. Auslöser war das Unvermögen des Sultans Abdülhamid II die aufkeimenden Nationalismen von Arabern, Albanern, Türken und Kurden unter Kontrolle zu bringen. Nachfolger wurde Sultan Mehmed V., der jedoch nicht den Erwartungen der Modernisierern entsprach.
Das osmanische Reich zählte zu den Verlierern des Ersten Weltkriegs und musste territoriale Verluste auf dem Balkan, dann in Nordafrika und später im Orient hinnehmen. Hinzu gesellte sich die zunehmende wirtschaftliche und politische Abhängigkeit von den europäischen Großmächten. Als Verbündeter des Deutschen Reichs hatte zwar das Osmanische Reich den Weltkrieg verloren, aber Mustafa Kemal war aus der Niederlage als tragischer Held hervorgegangen. Er war zum General aufgestiegen, außerdem hatte er für seinen Sieg in den Dardanellen den Ehrentitel Pascha erhalten. Dem militärischen Zusammenbruch folgte der Zerfall des Reichs: Istanbul und die Meerengen wurden besetzt, Makedonien und Thrakien auf dem Balkan sowie die orientalische Besitzungen Mesopotamien, Syrien und Palästina waren verloren. Die Schwäche des Osmanenreichs weckte Begehrlichkeiten, beispielsweise von den Griechen, die das Großgriechenland der Antike aufleben lassen wollten. Auch die Armenier und Kurnden strebten nach Unabhängigkeit.
Der Aufstieg des Mustafa Kemal Pascha zum Atatürk begann mit dem Hilferuf des Sultans des Osmanischen Reichs, Mehmed VI., um die Unruhen in Anatolien niederzuschlagen. Ab Ende April 1919 sollte er die von den westlichen Siegermächten diktierten Bestimmungen des Waffenstillstands durchsetzen. Kemal agierte anders als gedacht und organisierte Widerstand gegen den Osmanenherrscher. Er sammelte die Reste der geschlagenen Osmanenarmee und organisierte den Befreiungskampf. Innerhalb von nicht einmal einem Jahr stand eine Gegenregierung. Mehr als zwei Jahre lang gab es zwei Regierungen. 1920 musste Mehmed VI. einem erniedrigenden Frieden zustimmen. Der Vertrag war jedoch schon bei der Unterzeichnung überholt: das Gegenregime in Ankara schuf Tatsachen. Binnen weniger Monate gelang es Kemal die Griechen zu vertreiben. Der blutige Kampf um die eigene Nation war der Katalysator für die Gründung der Republik. Zweieinhalb Jahre nach dem Hilferuf war das osmanische Reich und damit das Sultanant Geschichte. Das neue Land hieß Türkiye Cumhuriyeti, Republik Türkei. Sultan Mehmed VI. und seine Familie flohen ins Exil.
Derweil wurde der Umbau des Staats forciert: Abschaffung des Kalifats, Ankara als Hauptstadt, Abschaffung von Scharia-Gerichtshöfen, Verbot des Koranunterrichts, Verbot der Lektüre arabischer Literatur sowie orientalische Musik und Tänze, Verbot das Tragen muslimischer Kleidung außerhalb der Moscheen, Abschaffung des Fez, Einführung von Familiennamen, lateinisches Alphabet und Emanzipation der Frau.
Die Schattenseiten machen sich bis heute merkbar: Spannungen mit ethnischen Minderheiten. Separatistische Bestrebungen wurden brutal unterdrückt. Für radikale Islamisten ist Atatürk ein rotes Tuch, nachdem er Religion und Staat radikal trennte. Mit Erdogan bröckelt Atatürks Erbe. 2023 feiert die Türkei ihr 100-jähriges Bestehen. Man darf gespannt sein.