Die Argumente, warum sie Erdogan wählen, sind erschreckend. Er ist ihr Präsident. Sie finden Erdogan toll...
Ich sag nur dazu (alt, aber wohl noch immer gültig, wie man sieht):
http://de.webfail.com/b1bdc8a9c69
@musv: Finde ich etwas pessimistisch. Gibts bei dir denn überhaupt einen Weg, der für die Türkei nicht in den Faschismus führt?
Ja, gibt es. Wenn Erdogan sofort abgesetzt wird und die AKP aus der türkischen Parteienlandschaft verschwindet, das Militär seine alte Macht zurückbekommt und die laizistische Gesellschaftsordnung in der Türkei wiederhergestellt wird.
Auch Atatürks strenger Laizismus ist übrigens ein Grund für Erdogans Erfolg heute.
Da stimme ich Dir vollkommen zu - mehr als du denkst.
Nehmen wir mal die türkische Geschichte des 20. Jahrhunderts her. Das Osmanische Reich war am Ende. Und das lag nicht nur am Ausgang des 1. WK. Das Land hatte sich selbst überlebt und ist in sich zusammengebrochen. Atatürk hat die alten verkrusteten Strukturen beseitigt und versucht, die Türkei in ein westlich orientiertes Land umzuwandeln. Dazu gehörte die Trennung von Staat und Religion, die Ersetzung des arabischen durch das lateinische Alphabet und auch die Abschaffung der Monarchie. Jetzt wissen wir aber aus dem vorderasiatischen und nordafrikanischen Raum, dass dort die Demokratie auf sehr wackligen Füßen steht. "Stabile Staatsordnungen" sind dort Diktaturen, Monarchien und islamische Gottesstaaten oder die Kombination daraus. Und genauso wissen wir, dass der Islam keine reine Religion ist sondern eine politische Ideologie, deren Anhänger immer danach streben, den Islam als Staatsdoktrin einzusetzen und die Sharia als primäres Gesetz zu etablieren.
In der Türkei hatte das Militär seit Atatürk eine Korrekturfunktion. Immer wenn durch die Wahlen der Staat zu sehr in Richtung Islam abtriftete, dann griff das Militär ein, putschte die Regierung weg, exekutierte ein paar Leute und setzte Neuwahlen an. Das war nicht unbedingt demokratisch, bewahrte aber die westliche Orientierung der Türkei - genauso wie das Kopftuchverbot.
In den 90-er Jahren kam dann der liebe Erdogan und landete mit seinen islamistischen Parolen gleich mal im Knast. Als er an die Macht kam, machte er das dann ganz geschickt. Über eine Öffnung gegenüber dem Westen kurbelte er die Wirtschaft an, zog das Volk auf seine Seite - sogar die Kurden. Dann begann er schrittweise, das Militär zu entmachten. Das war 2008. Denn er wusste genau, sobald er seine eigentlichen Ziele durchsetzen will, würde das Militär ihn wegputschen. War das Militär erst mal beseitigt, begann er mit der schrittweisen Metarmophose der Türkei von einer Pseudodemokratie zu einer islamischen Diktatur. Geschickterweise hat er die dafür notwendigen Gesetze schrittweise so geändert, dass er seine Macht langsam, aber stetig und immer im Rahmen der gerade angepassten Gesetze ausgebaut hat. Ein schönes Beispiel war der Wechsel in die Präsidentschaft. Der hat in der Türkei genau wie in Deutschland nur eine repräsentative Aufgabe. Über das Referendum bekommt das Präsidentenamt allerdings soviel Macht, dass das Parlament eigentlich überflüssig wird.
Die Nazikeule ist normalerweise nicht mehr Ding. Als der Adolf im Knast "Mein Kampf" geschrieben hatte, wurde das als Spinnerei abgetan. Aber alles, was er in dem Buch geschrieben hatte, setzte er dann auch später um (Judenvernichtung, Ostexpansion). Bei Erdogan ist das so ähnlich. Alles, was er in den 90-er Jahren in der
Wohlfahrtspartei zum besten gegeben hat, setzt er seit 2008 nach der Entmachtung des Militärs schrittweise um.
Sehr schön zum Nachlesen:
http://www.faz.net/aktuell/feuillet...erkei-unter-erdogans-herrschaft-14346321.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Recep_Tayyip_Erdoğan
http://www.focus.de/politik/videos/...8-ist-heute-aktueller-denn-je_id_5742865.html
Im Gegensatz zu Dir sehe ich den Niedergang der Wirtschaft nicht als den zentralen Punkt, durch den sich Erdogan stoppen lässt. Er wird für die wirtschaftlichen Probleme im Land die EU verantwortlich machen. Außerdem streckt er schon seit 2012 seine Fühler in Richtung
Russland/China aus. Das ist insofern suspekt, da die Türkei als NATO-Mitglied ist und die SOZ praktisch als eine Art Nachfolger des Warschauer Paktes gegründet wurde und einen wirtschaftlichen und militärischen Gegenpol zur NATO darstellen soll.
Vielleicht sind auch die über Jahrzehnte schleppenden EU-Beitrittsverhandlungen mit Schuld an der Entwicklung. Aber wenn ein Land nur durch Militärputsche abgehalten kann, sich in einen islamischen Gottesstaat zu verwandeln, dann gehört das Land einfach nicht zu unserem Kulturkreis. Und insofern ist Erdogan jetzt konsequent und pragmatisch, dass er die Türkei neu ausrichtet in Richtung Zentralasien. Ein Großteil der zentralasiatischen früheren Sowjetrepubliken (die ganzen *isistans) werden von Turkvölkern bewohnt und passen schon dadurch kulturell wesentlich besser zur Türkei als Europa.
Meiner Meinung nach sollte man die Türkei ziehen lassen: die EU-Verhandlungen endgültig beenden, die EU-Zahlungen in Richtung Türkei stoppen und sofern Erdogan will, das Land auch aus der NATO entlassen. Ich glaub, eine Neuausrichtung des Verhältnisses Europa-Türkei würde beiden Seiten gut tun.