• Hallo liebe Userinnen und User,

    nach bereits längeren Planungen und Vorbereitungen sind wir nun von vBulletin auf Xenforo umgestiegen. Die Umstellung musste leider aufgrund der Serverprobleme der letzten Tage notgedrungen vorverlegt werden. Das neue Forum ist soweit voll funktionsfähig, allerdings sind noch nicht alle der gewohnten Funktionen vorhanden. Nach Möglichkeit werden wir sie in den nächsten Wochen nachrüsten. Dafür sollte es nun einige der Probleme lösen, die wir in den letzten Tagen, Wochen und Monaten hatten. Auch der Server ist nun potenter als bei unserem alten Hoster, wodurch wir nun langfristig den Tank mit Bytes vollgetankt haben.

    Anfangs mag die neue Boardsoftware etwas ungewohnt sein, aber man findet sich recht schnell ein. Wir wissen, dass ihr alle Gewohnheitstiere seid, aber gebt dem neuen Board eine Chance.
    Sollte etwas der neuen oder auch gewohnten Funktionen unklar sein, könnt ihr den "Wo issn da der Button zu"-Thread im Feedback nutzen. Bugs meldet ihr bitte im Bugtracker, es wird sicher welche geben die uns noch nicht aufgefallen sind. Ich werde das dann versuchen, halbwegs im Startbeitrag übersichtlich zu halten, was an Arbeit noch aussteht.

    Neu ist, dass die Boardsoftware deutlich besser für Mobiltelefone und diverse Endgeräte geeignet ist und nun auch im mobilen Style alle Funktionen verfügbar sind. Am Desktop findet ihr oben rechts sowohl den Umschalter zwischen hellem und dunklem Style. Am Handy ist der Hell-/Dunkelschalter am Ende der Seite. Damit sollte zukünftig jeder sein Board so konfigurieren können, wie es ihm am liebsten ist.


    Die restlichen Funktionen sollten eigentlich soweit wie gewohnt funktionieren. Einfach mal ein wenig damit spielen oder bei Unklarheiten im Thread nachfragen. Viel Spaß im ngb 2.0.

Mein Hafttagebuch

Bruder Mad

Pottblach™

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Wirklich klasse geschrieben, macht Lust auf mehr! Und die Story bzw. die Einblicke in den Knastalltag sind auch mal interessant. Bitte weiter so! :beer:
 

T_Low_Benz

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Langsam kann ich nicht mehr warten @BeSure: :D
Hast wahrscheinlich viel um die Ohren aber ich Frage immer mal nach damit du nicht denkst das Interesse fehlt :P
 

galor

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Hab ursprünglich eigentlich nach dem Stichwort "Matratzen" gesucht weil ich dachte in dem Forum hier gäbs irgendwo einen Thread in der Kaufberatung... und bin dann "leider" hier hängengelieben... Also eine Knastmatratze wirds schonmal nicht denke ich. :D
Innerhalb von zwei Tagen den Content den du in zwei Jahren hier geschrieben hast gelesen. Liest sich sehr gut und bin gespannt auf die weiteren Parts. :coffee:
 

Trolling Stone

Troll Landa
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Am 2.1. 2016 hat er angefangen zu veröffentlichen (im anderen Board). Da wird er vorher schon dran geschrieben haben, also eventuell schreibt er schon 2 Jahre und 3 Monate. Cirka.

Na, fühlst dich schon alt? :D
 

BeSure

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Hey Leute,

tut mir Leid für die lange Pause. Ich bin im Januar aus meinem Auslandssemester aus England zurückgekehrt. Seit dem musste ich viel organisatorisches Zeug erledigen, mich wieder in Deutschland zu recht finden usw. Hinzu kam mein Umzug und in Vollzeit gearbeitet habe ich auch noch um Kaution etc. zusammen zu bekommen :D

Jetzt steht noch die Bachelor-Thesis an, das wird ein stressiges Semester - aber hoffentlich mein letztes :)

@Bruder Mad
Vielen Dank :)

@T_Low_Benz und Trolling Stone
Haha, auch wenn ich nicht schnell genug liefere, bitte macht weiter mit euren Kommentaren. Ich lese hier schon täglich mit und mag das total, wenn ihr dann nach Kapitel schreit, haha. Vor Allem der GRRM Vergleich war geil xD

@Metal Warrior
Haha, hab zum Glück meine Klausuren in England schon im Januar geschrieben. Den Februar hab ich nur mit Arbeiten verbracht :D Nie wieder Klausuren, juhu - nur noch eine Thesis :)

@galor
Hab ich irgendwo in meinen Kapiteln Knastmatratzen erwähnt? :P Ich hoffe Du wurdest wenigstens mittlerweile fündig, wenn ja, hast Du Tipps? Brauche für meine neue Wohnung auch eine Matratze :) Ansonsten echt krass, mehr als zwei Jahre sind es schon O_O

@n87
Ich fühle mit Dir :P In England habe ich meinen Mitbewohnern ein Foto von mir gezeigt und gesagt: "Das war ich vor fünf Jahren, da war ich noch 20 Jahre alt." Und dann schaut mich eine Mitbewohnerin an und sagt: "20 Jahre? Vor fünf Jahren?" Und das traf mich wie ein Schlag in's Gesicht: "Fuck, ich bin ja schon 27" xD

Kapitel 58 - Die schlimmen Nachbarn

Enttäuscht vom Gespräch mit der Sozialarbeiterin widmete ich mich wieder meinem Job als Reiniger. In den kommenden Tagen fiel meine Stimmung in den Keller. In meiner deprimierenden Situation hatte ich einfach keine Kraft mehr zu kämpfen. Seit dem Beginn meiner Haftzeit begegnete ich einer Hürde nach der anderen. Entweder war ich in Freiheit zu verwöhnt gewesen, und es war einfach der Häftling-Status, dass nichts mehr so wirklich funktionieren wollte. Oder ich hatte einfach eine große Pechsträhne, die nicht mehr enden wollte. Dass es Hierarchien bei Häftlingen gab, war mir schon anfangs klar geworden. Doch gab es da noch die Beamten und die Stockwerksleiter, die mit den drei silbernen Sternen, die Sozialarbeiter, die Psychologen und der Anstaltsleiter, den ich nie zu Gesicht bekam. Ja, auch unter den Beamten gab es durchaus Hierarchien. Wir Häftlinge waren dabei ganz unten in der Nahrungskette – und das Schlimmste daran war, dass sich das draußen nicht ändern würde. Mir schwirrten unangenehme Gedanken durch den Kopf: Welchen Status würde ich nach meiner Entlassung innehaben? Wäre ich der Ex-Häftling, der Betrüger, der schlechte Sohn, der Abschaum der Gesellschaft – würde mich jemals jemand akzeptieren, abgesehen von meiner Familie? Was wäre mit denjenigen, die mich seit meiner Kindheit kennen – von meinen „Freunden“ hatte ich bis dato noch immer nichts gehört. Ein paar Tage später kam meine Mutter wieder zu Besuch und bestärkte mich in meinen Sorgen. Sie begann zu erzählen:

„Cem hat nach der Haft eine Weile gebraucht, um sich wieder einzuleben. Deine Zwillingsschwester hat viel Zeit mit ihm verbracht, ist mit ihm shoppen gegangen, auf Events und dergleichen. Cem hat sich dann mit einem türkischen Jungen angefreundet, ein ganz netter Junge – seine Familie war auch sehr nett. Letztes Wochenende waren wir zu einer türkischen Hochzeit eingeladen. Bei dem ganzen Getümmel haben deine Zwillingsschwester und ich den Freund von Cem gesehen, welcher in Gesellschaft seiner Eltern war. Auf Aufforderung der Mutter haben wir Platz am Tisch genommen. Wir haben uns sehr nett mit der Mutter unterhalten und über unsere Söhne geredet. Wir beide fanden es gut, dass unsere Söhne sich gut verstanden. Deine Zwillingsschwester und ich waren dann kurz auf der Toilette. Als wir zurückkamen, begegneten wir abweisend dreinblickenden Gesichtern. Da meinte die Mutter des Freundes von Cem doch tatsächlich: „Bitte setzt euch wo anders hin. Und sage deinem Sohn, er soll sich fern von meinem Sohn halten.“ Dieser unerklärliche Wandel ließ uns schlecht fühlen, doch wir taten wie gebeten. Später erfuhren wir dann etwas, was uns entsetzte. Unsere türkische Nachbarin, die wir stets besuchten, zu der wir einen guten Kontakt pflegten, die euch seit eurem fünften Lebensjahr kennt und liebt … sie hatte die Mutter vor Cem gewarnt.“ Ich war geschockt und konnte es kaum glauben. Die Nachbarin, von der meiner Mutter sprach, war immer sehr nett, zuvorkommend und hilfsbereit uns gegenüber gewesen. Wir besuchten sie öfter – auch als Kinder waren wir oft zu religiösen Festen bei ihr und ihrer Familie. Nein, wir waren nicht nur Nachbarn, sondern befreundete Familien. Sie wussten so gut wie alles über uns: „Ich verstehe das nicht. Das kann doch nicht sein. Wieso hat sie so etwas getan? Und wie genau? Das habe ich jetzt nicht verstanden, Mama.“ Ihrem Gesicht konnte ich die Trauer entnehmen, sie war erneut enttäuscht worden von einem Menschen – diesmal nicht von ihren Söhnen – aber von ihrer guten Freundin, Nachbarin, die sie seit gut zwei Jahrzehnten kannte. Menschen waren und sind eben doch unberechenbar: „Sie hat uns auf der Hochzeit mit der Mutter des Freundes von Cem sitzen sehen. Während unserer Abwesenheit, also als wir auf Toilette waren, ist sie wohl sofort zur Mutter und hätte gemeint, dass Cem ein sehr schlechter Junge sei, dass er erst kürzlich aus der Haft rausgekommen sei und er sicherlich einen schlechten Einfluss auf ihren Sohn hätte.“ Ich spürte weder blanken Hass noch aufschäumende Wut. Lediglich eine große Enttäuschung machte sich in mir breit. Ich hatte immer sehr viel von unserer Nachbarin gehalten, sie war für mich stets der Engel in Person gewesen, nie hätte ich von ihr so etwas erwartet. Ich war nicht nur enttäuscht von ihr, irgendwie war ich enttäuscht von der Menschheit, enttäuscht von mir. Muss ein Mensch erst selbst zum Häftling werden, um Häftlinge zu tolerieren, solange sie denn versuchten, sich zu resozialisieren? Muss ein Mensch erst selbst homosexuell werden, um Homosexuelle zu akzeptieren? Muss ein Mensch erst Abstand zu seiner Religion bekommen, eher er andere Ansichten akzeptierte? War ich denn nicht auch so gewesen? Für mich waren Häftlinge doch auch Abschaum der Gesellschaft gewesen, Homosexuelle irgendwie seltsam und nicht normal. Atheisten, Christen, Juden und alle Andersgläubigen hatte ich bereits in der Hölle schmoren gesehen. Doch war ich nun anders? Ja, zum Teil – würde ich sagen. Wer weiß denn schon, was ich noch bewusst oder unbewusst nicht tolerierte, nicht akzeptierte, nicht verstand, von dem ich nichts wissen wollte – ich nahm mir vor, in Zukunft vermehrt darauf zu achten.

Meiner Mutter erzählte ich noch von Comburg. Mittlerweile hatte ich mich da etwas schlau gemacht: „Bevor ich in den Freigang darf, muss ich erst nach Comburg. Das ist ein Bauernhof, wo ich dann wohl vier bis fünf Monate verbringen muss. Ab dem Zeitpunkt steigert sich mein Freigang progressiv: so, wie ich das verstanden habe, darf ich dann quasi tagsüber raus und an der frischen Luft arbeiten. Nach sechs Wochen kann ich für fünf Stunden in die Stadt, das wäre der erste Ausgang. Der zweite Ausgang findet zwei Wochen später statt, wobei ich erneut 5 Stunden in die Stadt raus dürfte. In der zehnten Woche darf ich dann zwölf Stunden raus und sogar nach Hause. In der zwölften Woche wieder zwölf Stunden nach Hause. In der 14. Woche dann sogar eine Übernachtung daheim, d.h. für ca. 40 Stunden raus. Und dann, erst drei Wochen später, also in der 17. Woche, darf ich zwei Übernachtungen daheim verbringen. Und dann ist es soweit und ich bin Freigänger. Wenn, darf ich wohl erst im Oktober in den halb-offenen Vollzug und wäre quasi so im Januar, Februar fertig. Ich könnte dann zum Sommersemester im März mit dem Studium beginnen. Aber es ist nicht sicher, ob ich in den halb-offenen Vollzug darf, weil ja noch das Abschiebungsverfahren gegen mich läuft. Bevor da keine Entscheidung gefallen ist, würden die mich wohl nirgends hinschicken. Aber mal schauen, was das Ausländeramt antwortet – ich hatte da bezüglich der Doppelstaatsbürgerschaft angefragt.“ Ich verabschiedete mich von meiner Mutter, nahm die zwei Milka-Schokoladen mit, die sie mir stets zu jedem Besuch am Snackautomaten rauslassen durfte und vernaschte diese sofort in meiner Zelle. Langsam aber sicher hatte ich eine Schokoladen-Sucht entwickelt. Jedes Mal, wenn ich gestresst war oder mich besser fühlen wollte, griff ich zu etwas Süßem – und dies war zurzeit so gut wie jeden Tag der Fall.

Die heißen Tage waren kaum auszuhalten, die Sonne prallte mit ihrer vollen Wucht direkt in die Zellen. Gesegnet waren jene, die sich einen Ventilator leisten konnten – oder eben wir Reiniger. Bei uns Reinigern war die Tür stets offen, somit hatten wir immer einen Durchzug im Zimmer oder wir flüchteten uns in den schattigen Flur. Nur wenige gaben Geld für einen Ventilator aus. Ca. 30 EUR kostete der Spaß, für das Geld konnte man sich locker eine Dose und zwei Beutel Tabak kaufen. Ohnehin hatte man in der Regel nur ca. 110 EUR monatlich zur Verfügung. In der Strafhaft durfte man auch kein Geld mehr von außerhalb bekommen. Dies war in der U-Haft anders, da durfte man zum „Lohn“ noch monatlich bis zu 180 EUR von der Familie überwiesen bekommen. Hinzu kam noch, dass die Preise beim Einkauf völlig überteuert waren. Die Supermarktkette Edeka war wohl der Lieferant, zumindest war die günstige Variante eines Produkts stets von der hauseigenen Marke. Da kam es mir gerade Recht, als mir ein Job beim „Einkauf“ angeboten wurde. Gashi, der Reiniger, wurde entlassen – ich hatte mittlerweile seinen Posten übernommen und endlich wieder eine Einzelzelle. „Herr Gashi hat im Einkauf gearbeitet, möchten Sie seinen Posten übernehmen?“, fragte mich ein Mann in „Zivil“, den ich zuvor nicht gesehen hatte. Ich bejahte. Die Aufgabe schien einfach: Ein LKW kommt mit mehreren Kästen voller Einkäufe, jeder Kasten hat eine Nummer. Nachdem der LKW von uns entladen wurde, müssen wir uns in einem sogenannten „Ausgabebereich“ einfinden. Nach und nach kommen die Häftlinge mit ihren Einkaufszetteln, auf denen eben die Nummern vermerkt sind, die sich auch auf den Kästen befinden. Wir geben den Kasten mit dem jeweiligen Einkauf aus, der Häftling kontrolliert anhand seines Einkaufszettels, ob alles geliefert wurde und geht. In einigen Fällen fehlte sogar etwas oder es wurde ein falscher Artikel geliefert, doch eine Einigung gab es immer: Entweder in Form einer Gutschrift oder eines Ersatzartikels, der in der Regel einen höheren Wert als den des bestellten Artikels besaß. Neben der üblichen Bezahlung gab es sogar noch einen Beutel Kaffee von dem Lieferanten geschenkt. Das sparte mir einiges an Geld, für Kaffee gab ich immer um die 7 EUR aus – der Einkauf fand alle zwei Wochen statt, somit bekam ich monatlich Kaffee im Wert von 14 EUR. Bei einem Lohn von 110 EUR machte das erheblich was aus, somit konnte ich mir mehr Schokolade kaufen, welche ich ohnehin gerne zum Kaffee vernaschte.

Über die unangenehme Seite des Jobs hatte mich allerdings noch keiner aufgeklärt. Ein junger Beamte kam beim ersten Mal auf mich zu: „Herr Ates, Sie kommen mit mir mit.“ Mit einem beladenen Hubwagen, auf den dutzende Kästen gestapelt waren, folgte ich ihm gehorsam. Während wir durch die verschiedenen Stockwerke gingen, setzte ich stets einen Kasten in der zugehörigen Zelle ab. Wenn ein Häftling beim Arzt, einer Verhandlung, arbeiten oder sonst irgendwie verhindert war, musste ich den Einkauf in die Zelle bringen. Anfangs nervte es mich noch, doch schnell fand ich Gefallen daran – nämlich dann, als wir uns im Stockwerk befanden, in dem ich meine U-Haft verbracht hatte: „Ach, wie die Zeit verfliegt“, dachte ich mir und wurde von Herrn Nils überrascht: „Herr Ates, Sie sind noch da?“ Er wusste wohl nicht, ob er froh oder traurig darüber sein sollte, mich zu sehen. Ich klärte ihn über meine aktuelle Situation auf und dann kam er doch tatsächlich wieder mit dem Spruch, den er zur Anfangszeit meiner U-Haft gemacht hatte: „Haha, diese Weihnachten bist Du also auch noch da.“ Ich musste schmunzeln: „Nein, nein. Ich hoffe, da bin ich auf Comburg.“ Er wünschte mir viel Glück und rief sogar die anderen Reiniger, damit sie mir beim Abladen der Einkäufe in die Zellen halfen. Als dann nur noch ein Hubwagen voller Einkäufe übrig war und wir vor einem Bereich standen, der mir bisher unbekannt geblieben war, blickte mich der Beamte ernst an. Ich ahnte schon, was kommen würde: „Herr Ates, ist es in Ordnung für Sie, wenn sie mitkommen? Das geht ganz schnell, es sind nicht so viele Zellen dort.“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, doch wollte ich sicher gehen: „Das ist die Schutzhaft, oder?“ Er nickte und holte den Aufzug.

Ich bekam ein mulmiges Gefühl. Das erste Mal würde ich die Nachbarn kennen lernen.
 

Trolling Stone

Troll Landa
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@T_Low_Benz und Trolling Stone
Haha, auch wenn ich nicht schnell genug liefere, bitte macht weiter mit euren Kommentaren. Ich lese hier schon täglich mit und mag das total, wenn ihr dann nach Kapitel schreit, haha. Vor Allem der GRRM Vergleich war geil xD

Danke. :D
Wenigstens jemand auf dem Level meines Humors. :beer:
 

Schrenk

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Endlich gehts weiter :) Ich schau eigentlich fast jeden Tag ob du was neues geschrieben hast xD völlig übertrieben, aber die Geschichte ist einfach spannend.
 

BeSure

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@Schrenk:
Haha, cool! Danke!

@Propaganda:
Si senor. :D

Kapitel 59 - Hassliebe

Der Flur sah ganz normal aus, und die Zellen waren identisch zu unseren – mit einer Ausnahme: Es gab nur Vier-Mann-Zellen in der Schutzhaft. Mir wurde es untersagt, auf die Namensschilder zu schauen. Ich sollte die Kisten mit den Einkäufen schnell in die Zellen legen und dann wieder herauskommen. Auch, wenn es nur gut zwei Dutzend Zellen waren (verteilt auf zwei Stockwerke) und ich von Zelle zu Zelle sprang, kam mir die Ausgabe der Einkäufe wie eine halbe Ewigkeit vor. Und auch, wenn der Beamte mich dabei ertappte und ermahnte, wenn ich doch einen Blick auf die Namensschilder wagte, hörte ich damit nicht auf – zumal ich mir nicht sicher war, ob er mich überhaupt hierher mitnehmen durfte. Ich wusste zwar nicht, ob sich die JVA die Mühe gemacht hatte, die Namen die Schutzhäftlinge zu anonymisieren und erdachte Namensschilder an die Zellen anzubringen, doch eins war klar: Der Großteil der Namen klang ausländisch. Dabei waren überraschend wenig russische Namen dabei – überraschend vor allem deswegen, weil in der JVA Schwäbisch Hall vermehrt Russen inhaftiert waren. Ich erkannte vornehmlich osteuropäische Namen, aber auch einige türkische und arabische. Deutsche Namen waren kaum vertreten, was wiederum den prozentualen Anteil in der restlichen JVA widerspiegelte: Auch in der Strafhaft waren deutsche Häftlinge in der Minderheit. In der U-Haft hatte ich noch gedacht, der geringe Anteil an deutschen Mithäftlingen würde daran liegen, dass die „Fluchtgefahr“ bei diesen nicht so ausgeprägt sei. Doch allmählich dämmerte mir, dass Ausländer eine höhere kriminelle Energie aufwiesen – so die Ergebnisse meiner Beobachtungen.

Ich hatte eine eigene Statistik dazu elaboriert: als Grundmenge dienten die Häftlinge, die ich in der JVA Schwäbisch Hall und JVA Stammheim gesehen hatte. Man sagt ja, „Traue nie einer Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast“. Da ich mir in diesem Falle die Statistik selbst zurechtgedacht hatte, war ich mir ihrer also ziemlich sicher. Viele wunderten sich, weshalb ich kriminell geworden war – ich würde dem Stereotypen eines Kriminellen gar nicht entsprechen. Derart waren auch meine Gedanken: Man betrachtet sein Gegenüber und denkt sich – wobei das Urteil rein auf den äußerlichen Attributionen basiert – : „Was für ein lieber Junge, der kann doch keinem was zu Leide tun“, oder eben das Gegenteil: „Der hat doch bestimmt Dreck am Stecken“. Wir Menschen denken einfach noch viel zu sehr in Kategorien, viel zu sehr in schwarz-weiß. Dies war eine der wichtigsten Erkenntnisse während der Haft, die ich auch im Nachhinein noch oft feststelle. Auch ich denke in diesen Kategorien. Ein dichter und schwarzer Bart, nach hinten gegelte Haare, eine große und nicht zu übersehende Muskelkraft, gepaart mit einem legeren Jogginghosen-Look, lassen bei mir automatisch sämtliche Alarmglocken läuten. Theoretisch könnte man eine Software entwickeln, in die man das Foto einer Person einspeisen und nur damit herausbekommen kann, wie wahrscheinlich es ist, dass der Mensch auf dem Bild kriminell ist. Dies würde dank der vorherrschenden Stereotypen mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit sogar funktionieren. Ich denke, ich lehne mich zudem nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich behaupte, dass die Polizei doch auch ein gewisses Beuteschema hat. So ertappte ich mich einmal während meiner Arbeit als Reiniger in dem Schutzhaft-trakt dabei, wie ich einen mir gegenüberstehenden Häftling besonders musterte. Er sah ganz nett aus, wirkte echt sympathisch auf mich und machte keinen gefährlichen Eindruck. Er grüßte mich sogar mit einer gewissen Herzlichkeit. In meinem Gehirn fing es aber plötzlich an zu rattern: Was ist, wenn dieser Mensch jemanden vergewaltigt hat? Was ist, wenn dieser Jemand ein Kind war? Mir war es, im Gegensatz zu meinen Häftlingskollegen, ziemlich egal, ob er ein Verräter, also ein 31er war. Es interessierte mich ebenso wenig, ob er einfach nur irgendeinen Blödsinn in der normalen Strafanstalt gemacht hatte und zu seinem eigenen Schutz in die Schutzhaft verlegt worden war. Sogar, ob er gemordet hatte, interessierte mich irgendwie auch nicht, denn die Mörder waren nicht pauschal in der Schutzhaft: Allein bei mir auf dem Stockwerk gab es zwei Mörder. Mit einem hatte ich sogar gesprochen. Er hatte bereits 7 Jahre seiner Gesamtstrafe abgesessen. Mit 19 Jahren hatte er einen Mord begangen und sich erhofft, vorzeitig zur zwei-Drittel-Strafe entlassen zu werden. Dies war abgelehnt worden, er muss also noch weitere fünf Jahre sitzen, bis er die zwölf Jahre voll hat. Nein, die einzige mich schockierende Straftat wäre das Vergehen an einem Kind. Stets musste ich dabei an meine kleine Schwester denken. Natürlich erfuhr ich nicht, was er getan hatte.

Die Zeit verging, der Sommer kam und die Tage wurden immer heißer. Uns Reinigern ging es blendend. Ich hatte es geschafft, dass die zwei Albaner meine Reiniger-Kollegen wurden, als die anderen beiden entlassen wurden. Es arbeitete sich einfach viel angenehmer, wenn man Kollegen hatte, mit denen man sich gut verstand. Es fragte mich sogar mal einer, ob ich aus dem Kosovo käme oder gar aus Albanien. Er war überrascht, als ich ihm mitteilte, dass ich aus der Türkei stamme. Auch hier zeigte sich mir sehr deutlich das stereotypisierte Urteil aufgrund des Äußeren. Mit der Sozialarbeiterin stand ich noch in Kontakt. Es war wohl etwas bezüglich meines offenen Vollzugs in Gange, doch es stand immer noch die Frage nach der Abschiebung im Raum. Laut meiner Anwältin würde der Prozess meiner Abschiebung vom Regierungspräsidium überprüft werden – sie kämpfe jedoch hart dafür, dass ich bleiben dürfe. Für mich war es ein absoluter Witz, dass diese Abschiebung nun wirklich real werden könnte. Um die Zeit zu vertreiben, hielt ich Ausschau nach Freizeitbeschäftigungen – zum Sport ging ich ohnehin bereits, so oft es ging. Ein „Türkischer Integrationskurs“ sollte Mitte September starten und im wöchentlichen Rhythmus laufen. Solch ein Kurs wurde damals schon während der U-Haft angeboten, allerdings war der „Hoca“ nach einiger Zeit gegangen – aus welchen Gründen auch immer. „Hoca“ ist das türkische Wort für Lehrer, meist wird es jedoch mit einem Imam assoziiert bzw. mit einem Lehrbeauftragen einer Moschee. Die moderne Bezeichnung für „Lehrer“ auf türkisch lautet eher „Öğretmen“. Genau aus diesem Grunde bezeichneten meine Kollegen und ich den kommenden Lehrer/Veranstalter als „Hoca“, denn wir gingen von ein, vielleicht zwei religiösen Predigten pro „Kurs“ aus. Und um ehrlich zu sein, hatte ich nach langer Abstinenz wieder Lust auf den religiösen Diskurs bekommen. Irgendwie hatten die Verse aus dem Koran eine beruhigende Wirkung auf mich. Entweder, so überlegte ich, hatten sie wirklich etwas „Göttliches“ an sich, oder es lag einfach daran, dass sie mich an meine Zeit in der Moschee und somit an meine „unschuldigen Jugend“ erinnerten, als alles noch augenscheinlich besser gewesen war. Überraschenderweise war die Anzahl der Anmeldungen gar nicht so hoch, was wohl auch an der ebenfalls überraschend geringen Anzahl an türkischen Häftlingen in der Strafhaft lag.

Es war auch schon eine Weile her, dass ich Gewalt in der Haft begegnet war und diese schöne Zeit des Friedens musste gerade von einem, im heutigen Jargon gern als „Lauch“ bezeichneten, drahtigen und recht schwächlich wirkenden Hänfling gebrochen werden. Als ich gerade während des Hofgangs mit den Albanern Tischtennis spielte und mich nicht mal schlecht dabei anstellte, hörte ich ein lautes Kreischen. Ein dünner, kleiner und junger Mann fuchtelte mit dem Zeigefinger herum und zeigte auf einen ebenfalls kleinen, aber gut gebauten, bärtigen Kurden. Dieser, ich nenne ihn jetzt mal weiterhin einen Lauch, war wohl lebensmüde oder wusste nicht, mit wem er sich da anlegte. Der Kurde war zwar nett und freundlich. So wurde er auch nicht müde, immer wieder seine Unschuld zu betonen, hatte er doch knapp sechs Jahre wegen versuchten Totschlags bekommen. Doch dann traute ich meinen Augen kaum: Obwohl der Kurde ganz cool und gelassen auf die Provokationen des Jungen reagierte, und nur beiläufig irgendwelche herablassenden Aussagen von sich gab, rannte der Lauch auf ihn zu. Ich meine, mitangesehen zu haben, dass der vor Wut rasende schmächtige Junge dem Kurden erfolgreich einen Schlag auf das Gesicht verpasste, bevor dieser sich daran machte, aus einem Lauch Hackfleisch zuzubereiten. Es ging alles so schnell, ich begriff gar nicht, wann und wie der Alarm losgegangen war, wie schnell und woher die dutzend Vollzugsbeamten kamen und wann sie die beiden kleinen Streithähne auseinander rissen. Schmunzeln musste ich, als der Lauch-Junge weiterhin große Töne spuckte und wild herumfuchtelte. Eins ist gewiss: Der hatte Eier.

Etwas hinterhältiger war ein Häftling, mit dem wohl auch nicht zu scherzen war. Sein Opfer war ein Türke, jener, den ich bereits aus Stammheim kannte. Doch dieser Türke war verrückt, nicht bei Sinnen meines Erachtens nach, und es war nur eine Frage der Zeit, bis ihm jemand eine Lehre erteilen würde – da war ich mir sicher. Doch hätte ich niemals erwartet, dass es so schmerzhaft sein würde. Eines Tages legte er sich mit dem Falschen an. So kam es, dass einmal kurz vor dem Hofgang alle Zellentüren geöffnet waren. Die Häftlinge verließen dann nämlich ihre Zellen, begaben sich in den Flur und warteten, bis die einzige Tür zum Hofgang aufging, um dann als gesammelte Mannschaft in den Hof zu marschieren. Einige Häftlinge jedoch bevorzugten es, in ihren Zellen zu warten, vom Fenster aus in den Hof zu schauen und irgendwelchen Tagträumen nachzuhängen, bis das „Go“ zum Hofgang kam. So war es wohl auch an diesem Tage, als der Türke verträumt aus dem Fenster schaute und plötzlich mehrere Stiche an seinem Rücken spürte – mit einem selbstgebauten Messer aus Zahnbürste und Rasierklinge (Häftlinge werden mitunter sehr kreativ, was solche Konstruktionen angeht). Der Alarm ging los, die Beamten steckten uns alle in unsere Zellen und der Sanitäter war auch im Nu da. Augenscheinlich wusste niemand, wer der Täter gewesen war – nun ja, zumindest keiner der Vollzugsbeamten. Auch nach Befragungen der Häftlinge kamen sie nicht zu einem Verdächtigen, man wollte ja schließlich weder irgendwelche „Gerüchte“ streuen und sich (den nach so einer Aktion todsicheren) Ärger einfangen, noch wollte man ein Verräter (31er) sein und sich in die Schutzhaft verlegen lassen. Den nieder gestochenen Türken sah ich danach nicht mehr. Er wurde wohl nicht in die Schutzhaft, sondern in eine völlig andere JVA verlegt, vielleicht auch in ein Krankenhaus.

Ein Russe jedoch wurde in die Schutzhaft verlegt. Mit ihm hatte ich zuvor eine kurze Unterhaltung unter der Dusche gehabt, bei der es hauptsächlich um mein Bäuchlein und sein dazu kontrastierendes Sixpack ging: „Du musst einfach jeden Tag mehrmals deinen Bauch anspannen, dann kommt das Sixpack von selbst. Das ist gutes Training“, meinte er. Jedoch hatte ihm das Sixpack wohl nicht viel gebracht, als er eines nachts von seinem, wohlgemerkt ebenfalls russischen, Zellenkollegen aus dem Schlaf gerissen worden war. Sein Zellenkollege hatte das Fernseh-Stromkabel genommen (an dieser Stelle sei nochmals die Kreativität der Häftlinge in solchen Belangen besonders betont) und es ihm um den Hals gebunden, wohl um ihn zu erwürgen oder um ihm – zumindest für einige Sekunden – die Luft zu rauben. Der Täter bekam besondere Sicherheitsmaßnahmen, also kein Fernseher, Einzelhofgang sowie keine Freizeit, schien jedoch damit kein Problem zu haben. Mir gefror das Blut in den Adern, als ich das Tatmotiv erfuhr: Der russische Häftling mit dem Sixpack hat wohl zu oft und zu laut geschnarcht.

Es war wohl wieder an der Zeit, dass jeder mindestens einmal austicken musste und so hoffte ich jedes Mal einfach nur, dass sich die Aggressionen nicht gegen mich richteten. Ich brauchte dringend etwas, was mich motivierte und mich aus dieser schlechten Stimmungslage rausholte. Denn die letzten Wochen hatte ich nur damit verbracht, mich über alles und jeden zu beschweren und zu lästern. Ich entwickelte einen Hass gegenüber dem viel gepriesenen Vaterstaat, gegenüber der Justiz und gegenüber der JVA im Besonderen. Und doch liebte ich Deutschland, ich wollte unbedingt hierbleiben. Die Justiz war im Grunde ja auch in Ordnung, alles war geregelt und ging fast immer seinen geordneten Gang. Und die JVA selbst? Man, ich mochte die meisten Beamten total, sie gingen auch nur ihrem Job nach. In mir gedieh eine Hassliebe vom Feinsten.

Als ich dann endlich den lang ersehnten Brief vom Landratsamt in den Händen hielt, hoffte ich so sehr auf einen Wendepunkt. Der Brief enthielt die Antwort auf meine Frage, ob ich die doppelte Staatsbürgerschaft beantragen dürfte – wozu ich hinzufügen muss, dass mir die deutsche allein völlig ausgereicht hätte. Mit dieser wäre die Abschiebung kein Thema mehr, und ich könnte in den lange von mir herbeigesehnten offenen Vollzug. Meine Hände zitterten, als ich den Brief öffnete.

Ich begann zu lesen.
 

MSX

Retro-Nerd-Hippie

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Keine Ahnung, ob ich es mal direkt sagte, aber Danke für den Erfahrungsbericht. :-)

Eine Frage und eine Bitte hätte ich: Du schreibst, Du hast den oder die Anstaltsleiter nie zu Gesicht bekommen. Je nach Problemgröße wird die Fluktuation in so nem Laden mehr oder weniger groß sein, aber kommt der Typ nicht am Anfang zu jedem hin, oder zwischenrein mal, oder sieht man den nicht bei irgendwelchen Veranstaltungen oder was auch immer? Gibts nicht die Möglichkeit, zu sagen, dass man den mal treffen will?

Zur Bitte: Mehr Absätze wären gut. Zumindest ich finde das schwer zu lesen. ;-)

Sonst noch: Mach was draus, aber überforder Dich auch nicht. Läuft alles soweit gut und Du bist noch jung. Genug Leben übrig und die Erfahrung, die Du aus der Sache und in der Zeit gesammelt hast, ist letztlich auch Gold wert. Insofern würde ich das nicht unbedingt als verschwendete Lebenszeit oder vertane Chancen betrachten, falls Dir das ab und zu so durch den Kopf geht.
 

BeSure

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@Bruder Mad:
Haha, ich bin zwar kein langsamer Leser, aber ein langsamer Schreiber :P

@n87:
Ich frage mich auch, wie ich das jedes Mal hinbekomme :D Mein Alltag endet nie mit einem Cliffhanger xD

@Schrenk:
Gute Nachricht: Das nächste Kapitel ist auch schon fertig geschrieben. Muss in nächster Zeit oft mit der Bahn eine etwas längere Strecke pendeln - perfekter Ort um an neuen Kapiteln zu schreiben. Jetzt muss nur die Korrekturleserin hinterher kommen, haha.

@MSX:
Danke! :)
Den Anstaltsleiter hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht zu Gesicht bekommen. Am Anfang oder so kam er auch nie. Ich wusste nicht wie er aussieht. Man bekommt ihn zu Gesicht, wenn man einen Antrag abgibt und begründet weshalb man ihn sprechen will. So gab es einen Häftling, der sich quasi für die Rechte der Häftlinge eingesetzt hat ala Backofen in den Küchen usw. Der hat mit dem Anstaltsleiter wohl paar Mal etwas zu tun gehabt. Aber keine Sorge, über den Anstaltsleiter berichte ich noch ;)

Oh, werde versuchen deiner Bitte nachzukommen. Liest Du direkt im Blog oder hier auf ngb? Ich glaub zumindest auf dem ngb ist es angenehmer zu lesen.

Vielen Dank für den letzten Absatz! Das nehme ich mir zu Herzen!

Kapitel 60 - Meine Gang: Meine Geschwister

Da lag doch definitiv ein Fehler vor! Das konnte nicht wahr sein. Ich las einmal, zweimal, dreimal: es stand schwarz auf weiß dort, auf diesem Stück Papier. Ich würde erst in 15 Jahren wieder die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen dürfen – also erst, wenn meine Strafe aus dem Bundeszentralregister entfernt worden war. Ich hatte das Thema Staatsangehörigkeit auf die zu leichte Schulter genommen. Ich hatte so sehr gehofft, dass ich meinen deutschen Ausweis zurückbekommen durfte. Ich hatte nie den türkischen Ausweis genutzt, um mich auszuweisen. Abermals kam mir mein ehemaliger Ethik-Lehrer aus Schulzeiten in den Sinn: „Emre, fühlst Du dich Deutsch oder doch eher Türkisch?“, wollte er damals wissen und löste in mir zahlreiche Gedanken aus – als was hatte ich mich denn gefühlt? Als was fühlte ich mich genau in diesem Moment? Ich kam zu folgendem Ergebnis: Ich bin Türke, ich habe nun einen türkischen Pass und kann halt eben auch Deutsch sprechen. So wie Deutsche, die einen deutschen Pass besitzen und Englisch sprechen können – die werden ja auch nicht zu Briten, nur weil sie zufällig auch auf der britischen Insel leben. Meine Anwältin verstärkte mit der folgenden Aussage unbewusst meine Abwehrhaltung, die ich der deutschen Bundesrepublik gegenüber empfand: „Herr Ates, Sie müssen begreifen, dass die Abschiebung seitens des Regierungspräsidiums eine reale Gefahr darstellt. Hätten Sie Anrecht auf einen deutschen Pass gehabt, dann hätten wir den Weg mit dem Regierungspräsidium nicht gehen müssen. Ich frage mich ernsthaft, warum sich ihr vorheriger Anwalt nicht darum gekümmert hat.“ Wie sehr ich meine Anwältin auch leiden konnte, und wie sehr ich auch selbst daran Schuld war, konnte ich dennoch das Gefühl des in mir aufkeimenden Hasses ihr gegenüber nicht unterdrücken: Im Brief vom Landratsamt stand, dass mit der Rechtskraft meines Urteils mein Anrecht auf die deutsche Staatsangehörigkeit verfallen sei. Um einen deutschen Ausweis zu bekommen, muss man nämlich gewisse Kriterien erfüllen: unter anderem sollte man der deutschen Sprache mächtig sein, mindestens 8 Jahre in Deutschland leben etc. Alle Kriterien erfüllte ich natürlich, bis eben auf die Voraussetzung, straffrei zu sein. Was das Schlimmste an der Sache war, dass meine kleineren Vorstrafenhierbei nicht zählten. Das bedeutete für mich: Hätte ich meine Revision nicht zurückgezogen, hätte ich es noch etwas länger in Stammheim ausgehalten, hätte ich mich in der Zeit um die Staatsbürgerschaft kümmern können und diese höchstwahrscheinlich auch bekommen…heißt im Klartext: dann wäre ich jetzt deutscher Staatsbürger! Diese Erkenntnis traf mich mit voller Wucht… hätte die nun vor mir sitzende Anwältin nicht auch daran denken müssen? Ich dementierte nicht meine Schuld an der Sache, doch wurde ich nun richtig sauer und wollte Mitleid, zumindest hatte ich welches mit mir selbst. Und damit ich es auch wirklich verstand, teilte mir meine Anwältin noch ergänzend mit, dass ich sofort eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen müsse, sollte das Regierungspräsidium von der Abschiebung absehen. „Was, Wie bitte? Wissen Sie was, die können mich alle mal. Ich gehe zurück in die Türkei, da gehöre ich ja jetzt offiziell hin. Ich habe überhaupt keine Lust auf diesen „Abschiebungs-diskurs“, die Beantragung der Aufenthaltsgenehmigung etc. Gut, wenn die mich nicht haben wollen, dann gehe ich halt.“ Dass das eine Schnapsidee war, war meiner Anwältin natürlich bewusst, nur mir in diesem Moment nicht so wirklich. Sie beruhigte mich kurz, bevor ich mich wieder in mein Stockwerk begeben musste.

Zurück an die Arbeit, ich fegte und wischte, was das Zeug hielt, Essensausgabe, Kleiderausgabe und all dies Tag für Tag. Und in ebenso regelmäßigem Rhythmus, wie ich diesen Tagesablauf befolgte, beschwerte ich mich bei meinen Reinigerkollegen. Man könnte es auch als „Ausheulen“ bezeichnen, denn ich pflegte mein Selbstmitleid mit sehr viel Hingabe. Aus meinem Hass entstand langsam ein Gefühl der Rache, und so begannen wir, Pläne zu schmieden: Ich würde es Deutschland heimzahlen. „Bruder, sag mir nur, ob das mit der Deutschen Bahn noch klappt. Dann machen wir das im großen Stil“, redete mein Reinigerkollege auf mich ein. „Ich bin mir sicher, dass das noch funktioniert. Die Deutsche Bahn will es doch ihren Kunden so einfach wie möglich machen, Bahntickets zu kaufen“, gab ich als Antwort zurück. Tatsächlich machte ich mir Gedanken darüber, wie ich am besten nochmals straffällig werden könnte.

Soweit ich mich erinnern konnte, diente die Haft vielen Häftlingen auch dazu, ihre Erfahrungen auszutauschen und neue Pläne zu schmieden: „Das nächste Mal mach ich es besser. Das nächste Mal gibt es keine Fehler.“ Ich hatte so gut wie niemanden erlebt, der nicht mal mit dem Gedanken gespielt hatte, nochmals kriminell zu werden. Soviel zur Reue, welche man beim Gericht so sehr beteuerte, weil es anders halt nicht ging, es wurde erwartet. Es war wie ein Teufelskreis: Man passte sich irgendwie der Umgebung an. Ich hatte – logischerweise – noch nie so viele Kriminelle in meinem Umfeld gehabt wie jetzt. Demzufolge hatte ich noch nie so viel kriminelle Energie auf einmal erlebt. Irgendwie war doch was an dem Spruch „Einmal kriminell, immer kriminell“ dran. Abends im Bett verwarf ich diese Gedanken jedoch wieder: „Emre, du spinnst doch!“, teilte mir mein Gehirn wie von selbst mit, als ich ganz allein über den Gedanken brütete, bevor es mich in die Traumwelt überführte. Doch meine Traumwelt bestand aus Gittern und Mauern, ich war nicht mehr in der Lage, von der Freiheit, von draußen, von meiner Familie zu träumen.

Zum Glück stand diese völlig hinter mir, sie gab mir die nötige Kraft, um stark zu bleiben. Der Anblick meiner Geschwister war immer wieder aufs Neue überwältigend, wenn ich zum wöchentlichen Besuch meiner Familie in den Besuchsraum geführt wurde. Meine Zwillingsschwester saß diesmal in der Mitte und lächelte mich herzlich an, sie hatte eine wundervolle Ausstrahlung. Für mich war sie schon immer eher wie eine große Schwester gewesen. Viele Dinge, an denen ich gescheitert war, hatte sie zu bewältigen gewusst. Es herrschte zwischen uns auch eher der Dialog, der üblicherweise zwischen einem älteren Geschwisterteil und einem jüngeren stattfindet. Sie gab immer vor, mehr Erfahrung in allem zu haben, beriet mich folglich stets bei Problemen jeglicher Art und schien sonst auch charakterlich stärker als ich zu sein. So konnte sie sich locker gegen meinen Vater durchsetzen, wohingegen ich stets still in der Ecke gesessen hatte, wenn mein Vater sich – mal wieder – über seine Kinder aufregte. Ich konnte mich in dem Kontext sehr gut an eine Situation in meiner Jugend erinnern: wir saßen gemeinsam mit der Familie im gleichen Raum, während mein Vater meine Schwester anschrie – den Grund kenne ich nicht mehr. Während ich erwartete, dass sie gleich losheulen würde, stand sie völlig überraschend auf, schrie meinen Vater an, ging zur Haustür und knallte ebendiese hinter sich zu. Mein Vater entbrannte vor Wut, sämtliche Gesichtszüge entglitten ihm, und er war längst noch nicht alles losgeworden, was er zu sagen gehabt hatte. Er blickte durch den Raum, denn ein neues Opfer musste her, welches sich von ihm beschreien lassen sollte: Sein Blick war damals auf den ruhigen Jungen in der Ecke gefallen, der sich das Spektakel angesehen hatte und regungslos dasaß, der nie antwortete, der alles wie ein riesiges Fass einfach aufnahm. Und so begann er völlig zusammenhanglos, mich anzubrüllen. Wann wohl der letzte Tropfen kam, der das Fass zum Überlaufen bringen würde? Bis heute ist der letzte Tropfen noch nicht gefallen.

Meine Zwillingsschwester hatte zudem auch bildungstechnisch die Nase vorn. Ihren Bachelor of Arts hatte sie bereits erlangt, was eines der letzten schönen Dinge gewesen war, die ich vor meiner Haft erleben durfte. Als ob das nicht schon genügte, befand sie sich im Moment auf dem besten Wege, ihr Master-Studium erfolgreich abzuschließen. Dabei hatte sie mir schon einige Male verklickert, dass es für sie sehr stressig sei und sie kurz davor war, das Handtuch zu werfen. Einerseits waren da die anspruchsvollen Veranstaltungen, welche jedoch das allgemeine Leiden der Studierendenschaft darstellte. Doch des Weiteren, und das wiederum empfand sie als große Ungerechtigkeit, musste sie noch den privaten Stress ertragen: Mein Vater ließ wohl all seine Wut bei meiner Mutter und ihr aus. „Vater, als ob es für uns nicht schon schwer genug ist zu ertragen, dass Emre und Cem in Haft sind, müssen wir jetzt noch dich ertragen? Ich mache meinen Master, ich kann mit diesem Stress nicht umgehen“, hatte sie, so erzählte sie, meinem Vater kürzlich klar gemacht – zu Recht, wie ich finde. Das war wohl auch das ausschlaggebende Argument dafür gewesen, dass sie in eine Frauen-WG nach Stuttgart gezogen war. Ich vermute aber, dass sie keine Gleichgesinnten in der WG finden konnte und ihre Mitbewohnerinnen Dinge taten, die meine Schwester mit ihrer Religion nicht vereinbaren konnte – anders konnte ich mir nicht erklären, weshalb sie nach einem Semester wieder zurück ins Elternhaus kam.

Cem für seinen Teil war wohl auf Shopping-Tour gewesen, denn in letzter Zeit kam er oft mit schicken und neuen Klamotten zum Besuch. An ihn dachte ich gar nicht mehr so oft wie früher, er war nun in der Obhut meiner Eltern. Eigentlich erwartete ich von ihm ein paar Frauen-Stories, ein gut aussehender Ex-Häftling sollte wohl die eine oder andere Frau auf einer Party klarmachen können. Er erzählte jedoch relativ oft von einer bestimmten Frau, nämlich seiner sehr scharfen und spanischstämmigen Bewährungshelferin! Sogar meine Eltern hatten wohl Gefallen an der hübschen Dame gefunden. Allerdings war sie etwas zu alt für ihn, sie war wohl schon Mitte 30. Abgesehen davon, hatte mein Bruder nun wieder mit der Schule angefangen, und wie es aussah, würde er die mittlere Reife endlich nachholen. Während ihm dies am meisten Sorgen bereitete, schien er sich weniger für das anstehende Gerichtsverfahren zu interessieren. Nach unserem damaligen Streit war er in die Türkei geflogen und hatte mit zwei anderen Typen aus dem Darknet die exakt gleiche Masche mit der Deutschen Bahn abgezogen, und dies im wirklich großen Stil: Während ich einen Gesamtschaden von etwa 130.000 EUR verursacht hatte, hatten Cem und diese beiden Jungs mehr als das 3-fache in einer viel kürzeren Zeit verursacht. Abgesehen davon lief ja auch noch die Revision meines Bruders, der diese noch nicht zurückgezogen hatte.

Meine herzzerreißend süße und kleine Schwester war noch im Kindergarten und erzählte im kindlichen Stil über ihre Freunde und Erzieher. Ich traute mich gar nicht zu fragen, ob sie wusste, wo wir uns gerade befanden und warum ich so lange fort war. Auch konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie überhaupt mit fünf Jahren in der Lage war, das Ganze zu verstehen. So sprachen wir stattdessen lieber über ihren anstehenden Geburtstag: „Was möchtest Du denn zum Geburtstag?“, fragte ich sie. „Ein Schmetterlings-Fänger“, strahlte sie, nachdem sie einige Sekunden überlegt hatte. „Was für ein Ding?“, fragte ich zurück und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen…„So ein Fang-Ding, ich will Schmetterlinge fangen.“ Sie wedelte mit den Händen und machte verschiedene Gestiken, die wohl das Fangen von Schmetterlingen nachahmen sollten. Immer wieder küsste ich sie auf ihre rosigen Wangen, während ich mich mit meiner Zwillingsschwester und Cem unterhielt. Meine kleine Schwester hatte sich ausgeklinkt und zeichnete mit einem bunten Stift Schmetterlinge auf ein weißes Papier. „Das macht sie immer, Emre. Sie tut so, als beschäftige sie sich anderweitig, doch horcht sie immer zu, sie bekommt alles mit“, teilte mir unsere größere Schwester mit, die daraufhin sofort Paroli von der Kleinen geboten bekam: „Das stimmt doch gar nicht! Ich male hier.“ Wir mussten lachen. Doch ich konnte mir vorstellen, wie schwierig es meine kleine Schwester hatte. Ich war ja bereits der Meinung, dass in meiner Kindheit und Jugend so einiges schiefgelaufen war und mein Vater wichtigere Prioritäten als seine Familie hatte, doch bei dem letzten Kind war es definitiv nochmal anders. Für mich war mein Vater immer jemand gewesen, vor dem ich Angst haben musste, ihn deshalb „respektierte“ und entweder tat, was er wollte, oder zum Lügner wurde, da mir andernfalls Konsequenzen drohten. Doch soweit ich mitbekam und es schon vor der Haft gesehen hatte, behandelte mein Vater meine kleine Schwester wie eine Prinzessin, kaufte ihr alles und tauschte mit ihr sogar Zärtlichkeiten aus. Eine Umarmung mit meinem Vater konnte ich mir beim besten Willen in 100 Jahren nicht vorstellen, meiner Zwillingsschwester und Cem ging es sicherlich genauso. Meiner kleinen Schwester fiel es deshalb bestimmt schwer, die Probleme daheim zu begreifen: Warum beschimpfte der Vater die Söhne? Warum waren ihre Brüder böse? Warum beschwerte sich der Rest der Familie über den Vater? Er hatte doch nichts Falsches getan? Es war auf alle Fälle keine gesunde familiäre Umgebung, in der sie aufwuchs – das tat mir furchtbar leid.

Ich verabschiedete mich bei meinen Geschwistern und ging mit einem sehr angenehmen und warmen Gefühl zurück in meine Zelle. Am liebsten hätte ich ja ein Foto von diesem Moment geschossen und es den ganzen Gangstern in meinem Stockwerk gezeigt: „Schaut, das ist meine Gang! Das sind wahre Brüder, wahre Schwestern! Das ist die einzige Gang, die ich kenne und die einzige, zu der ich gehöre! Jetzt geht weg mit euren Möchtegern Brüdern und eurem Chapter!“

Ich war vor gut einem Jahr zur Suchtberatung gegangen, eine Aktion meinerseits in der Hoffnung, daraufhin eine mildere Strafe im Gericht erwarten zu können. Doch dies war vor Gericht unerwähnt geblieben, wir hatten verzichtet, darauf einzugehen. Die gewünschte Reaktion war demnach ausgeblieben. Dass das Gesetz „Aus Actio folgt Reactio“ jedoch trotz Allem existierte, bestätigte mir die Dame, die gerade an meiner Zellentür geklopft hatte. Sie sah aus, als wäre sie einer Bibliothek entflohen, irgendwie strahlte sie eine Art biblische Strenge aus: „Herr Ates?“ Ich nickte, sie fuhr fort: „Ich bin die Psychologin und möchte gerne mit Ihnen aufgrund ihres Antrags für die Verlegung in den offenen Vollzug sprechen. Es geht um Ihre Spielsucht.“
 

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Retro-Nerd-Hippie

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Das finde ich ja nicht so glücklich gelöst, wenn der da nicht einmal am Anfang vorbeikommt. Finde, so würde sich das gehören. Aber gut, wie gesagt, ich hab keine Ahnung, wieviel Durchgang da herrscht und um wieviele Leute es sich dreht. In Fällen wie Deinem jedoch, wenn jemand länger da ist, sollte man sich als Leitung schon mal blicken lassen.

Ich lese nur hier und das auch nur an einem normalen PC. Bietet sich halt eh grad an.

Gern. :-)
 
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