• Hallo liebe Userinnen und User,

    nach bereits längeren Planungen und Vorbereitungen sind wir nun von vBulletin auf Xenforo umgestiegen. Die Umstellung musste leider aufgrund der Serverprobleme der letzten Tage notgedrungen vorverlegt werden. Das neue Forum ist soweit voll funktionsfähig, allerdings sind noch nicht alle der gewohnten Funktionen vorhanden. Nach Möglichkeit werden wir sie in den nächsten Wochen nachrüsten. Dafür sollte es nun einige der Probleme lösen, die wir in den letzten Tagen, Wochen und Monaten hatten. Auch der Server ist nun potenter als bei unserem alten Hoster, wodurch wir nun langfristig den Tank mit Bytes vollgetankt haben.

    Anfangs mag die neue Boardsoftware etwas ungewohnt sein, aber man findet sich recht schnell ein. Wir wissen, dass ihr alle Gewohnheitstiere seid, aber gebt dem neuen Board eine Chance.
    Sollte etwas der neuen oder auch gewohnten Funktionen unklar sein, könnt ihr den "Wo issn da der Button zu"-Thread im Feedback nutzen. Bugs meldet ihr bitte im Bugtracker, es wird sicher welche geben die uns noch nicht aufgefallen sind. Ich werde das dann versuchen, halbwegs im Startbeitrag übersichtlich zu halten, was an Arbeit noch aussteht.

    Neu ist, dass die Boardsoftware deutlich besser für Mobiltelefone und diverse Endgeräte geeignet ist und nun auch im mobilen Style alle Funktionen verfügbar sind. Am Desktop findet ihr oben rechts sowohl den Umschalter zwischen hellem und dunklem Style. Am Handy ist der Hell-/Dunkelschalter am Ende der Seite. Damit sollte zukünftig jeder sein Board so konfigurieren können, wie es ihm am liebsten ist.


    Die restlichen Funktionen sollten eigentlich soweit wie gewohnt funktionieren. Einfach mal ein wenig damit spielen oder bei Unklarheiten im Thread nachfragen. Viel Spaß im ngb 2.0.

Mein Hafttagebuch

BeSure

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Hey cavin,

vielen Dank :) Diesmal ein etwas "fachlicheres" Kapitel, war grundsätzlich nur Abtipp-Arbeit :P

Kapitel 34 - Mein Haftbefehl, die zweite

Mein Anwalt zu meiner Linken hielt noch einen kleinen Smalltalk mit der Richterin, beide lachten. Dies und die Tatsache, dass es wohl möglich war, einfach so einen erneuten Haftbefehl auszusprechen, machte mich unglaublich wütend. Ich verfiel in eine Art Schockstarre und verstand gar nicht, was vor sich ging, bis die Richterin dann endlich anfing, den Haftbefehl vorzulesen. Es war still im Raum, mein Anwalt war schon fast am Einnicken – er hörte wohl der einschläfernden Stimme der Richterin zu, die so klang, als würde sie eine Gute-Nacht-Geschichte vortragen. Für mich war das allerdings vielmehr eine Geschichte des Albtraums. Ich hatte am ganzen Körper Gänsehaut, meine Ohren fühlten sich heiß an. Ich brauchte eine Weile, um wieder eine normale Körpertemperatur zu erreichen und versuchte, der Richterin konzentriert zu folgen.

„In dem Ermittlungsverfahren gegen den

am 01.01.1991 in Niedernhall geborenen,
bis zur Inhaftierung in 73728 Esslingen wohnhaften,
– In vorliegender Sache nach vorläufiger Festnahme am 05.04.2013 seit 05.04.2013 aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Esslingen vom 05.04.2013 in Untersuchungshaft, derzeit in der JVA Schwäbisch Hall

ledigen

Emre Ates
– Staatsangehörigkeit: deutsch und türkisch

Verteidiger: Rechtsanwalt Günther Mayer
Realschulstraße 22, 74072 Heilbronn

wegen gemeinschaftlichen, gewerbsmäßigen Computerbetrugs


wird weiter

die Untersuchungshaft


angeordnet.

Dem Beschuldigten liegt nunmehr – unter Bezugnahme auf den Haftbefehl vom 05.04.2013 – folgender Sachverhalt erweiterter Sachverhalt zur Last:

Dem Beschuldigten Emre Ates wird vorgeworfen, im Zeitraum vom 27.07.2013 bis zum 04.04.2013 nicht nur in 18, sondern in weiteren 802 Fällen, insgesamt also 820 Fällen, hiervon bis mindestens Ende Oktober 2012 in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken mit Adnan Polat und seit mindestens Anfang Oktober 2012 bis zu seiner Festnahme am 04.04.2013 in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken mit seinem Bruder Cem Ates nach folgendem modus operandi betrügerisch Bahnfahrkarten bei der Deutschen Bahn AG bestellt zu haben. Weiter war ein bislang unbekannter Mittäter beteiligt, soweit die Buchungen über die E-Mail-Adresse „@zehnminutenmail.de“ stattfanden:

Die Beschuldigten boten über das Internetforum www.mitfahrgelegenheit.de der „mitfahrgelegenheit.de carpooling.com GmbH“, Nymphenburger Str. 86, 80636 München Bahntickets der Deutschen Bahn AG zum Verkauf an. Die Angebote bezogen sich auf jeweils längere Fahrtstrecken. Die Online-Tickets wurden zum Preis von 40,- € pro Person und Strecke angeboten, während der tatsächliche Normalpreis für die Fahrkarten in der Regel bei deutlich über 100,- € lag. Für die Kontaktaufnahme mit dem Käufer gaben sie jeweils von ihnen zuvor bei Internetserviceprovidern angelegte E-Mail-Adressen, die erfundenen Namensbestandteile enthielten, wie etwa thomasschniek@yahoo.de, danielmaurer877@hotmail.de, haroldkäfer@gmail.com und viele mehr, an. Meldete sich ein Kaufinteressent, so wurde dieser gebeten, alle zur Online-Ticketbestellung notwendigen Daten – unter anderem die letzten 4 Ziffern der Personalausweisnummer – anzugeben.
Wenn die Daten vorlagen, bestellten die Beschuldigten über das Internetportal der Deutschen Bahn AG unter Verwendung derselben E-Mail-Adresse, die sie bei www.mitfahrgelegenheit.de angegeben hatten, das entsprechende Ticket bei der Deutschen Bahn AG. In die Buchungsmaske gaben sie dabei statt der Daten der Reisenden frei erfundene Adressen ein, um eine spätere Identifizierung zu erschweren. Sie verwendeten zur Bezahlung des Tickets widerrechtlich die Kreditkartendaten fremder Personen. Diese Kreditkartendaten hatten sie zuvor über sogenannte „schwarze“ Internetforen wie www.cardars.cc erlangt, über die in großer Zahl ausgespähte Datensätze gehandelt werden. Die Beschuldigten handelten in dem Wissen und Wollen, dass über die Webseite der Deutschen Bahn AG nach der Eingabe aller Daten automatisiert das Online-Ticket versendet würde und ab diesem Zeitpunkt auch einsatzbereit wäre, ohne dass die Deutsche Bahn AG hierfür die entsprechende Zahlung erhalten würde, da diese zurückgebucht wird oder nur deshalb eine Rückbuchung nicht erfolgt, weil der betroffene Inhaber des Kreditkartenkontos die unrechtmäßige Abbuchung nicht bemerkt. Ab Versendung der Bahnfahrkarten per E-Mail waren diese auch einsatzbereit.

Die Käufer der Tickets wurden angewiesen, den Kaufpreis auf verschiedene Girokonten, überwiegend die zwei Konten Kontonummer 1033951003, BLZ 51220700 bei der Ziraat Bank International AG, Am Hauptbahnhof 16, 60329 Frankfurt und auf das Konto mit Nummer 799489200, BLZ 20010020 bei der Postbank AG zu überweisen. Die beiden Konten wurden von Dritten, mutmaßlich den anderweitig verfolgten Beschuldigten Hasan Agac und Mahmud Mostafa unter Vorlage gefälschter Personaldokumente allein zum Zweck der Vereinnahmung widerrechtlicher Gewinne eröffnet. Teilweise wurden aber auch andere Girokonten und Zahlungswege benutzt.

Bis zum Auszug des Emre Ates aus der elterlichen Wohnung in Stuttgart ca. Ende September / Anfang Oktober 2012 handelten die Beschuldigten Brüder Ates und Polat überwiegend von den Wohnungen Ludwigstraße 42 Stuttgart und Taubenstraße 31 Stuttgart (elterliche Wohnung des Polat) aus. Nach dem Auszug des Emre Ates dürften die Taten überwiegend von dessen Wohnung in Esslingen stattgefunden haben.

Die drei bzw. später zwei Beschuldigten nahmen jeder in wechselnder Beteiligung sowohl die Einstellungen bei der Mitfahrzentrale, die Kommunikation mit den Reisenden, die Bestellungen der Fahrkarten und die Kommunikation mit den Personen aus den „Schwarzen Foren“ vor.

Der Beschuldigte Emre Ates handelte, um sich aus dem Ankauf der Bahntickets und den Einnahmen aus den Kaufpreiszahlungen der Reisenden eine fortlaufende Einnahmequelle von einigem Umfang und einiger Dauer zur Finanzierung seines Lebensunterhaltes zu verschaffen.

Es entstand ein Gesamtschaden zum Nachteil der Deutschen Bahn AG in Höhe von 128.823,20 €. Der vereinnahmte Gewinn liegt hinsichtlich des Kontos der Ziraat Bank bei 20.617,30 €, hinsichtlich der Postbank Hamburg bei 13.765,00 €. Der Gesamtgewinn dürfte höher liegen, da insbesondere Ende Juli / Anfang August 2012 und im Februar 2013 zahlreiche Buchungen von Bahntickets vorgenommen wurden, bei denen nicht geklärt ist, wie die Reisenden den „Kaufpreis“ bezahlten.

Die einzelnen Taten ergeben sich aus der Anlage 1 zum Haftbefehl, laufende Nummern 1 bis 820.
(Bei Zeilen ohne laufende Nummer handelt es sich um den Einsatz von Kreditartendaten, die nicht akzeptiert wurden, in der Regel wurde die Tat dann durch die Verwendung von anderen Kreditkartendaten beendet.)

Dies ist strafbar als gemeinschaftlich begangener gewerbsmäßiger Computerbetrug in 820 Fällen gem. §§ 263 a Abs 1, 2 i.V.m. § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 ., 53, 25 Abs. 2 StGB.

Der dringende Tatverdacht ergibt sich neben den im Haftbefehl vom 05.04.2013 aufgeführten Verweis auf die polizeilichen Ermittlungen, also insbesondere der Tatsache, dass die Beschuldigen Emre Ates und Cem Ates am 04.04.2013 von der Bundespolizei München dabei beobachtet wurden, wie sie von einem Geldausgabeautomaten der Baden-Württembergischen Bank der Filiale Küferstraße 35 in 73730 Esslingen a.N. gemeinsam Geld abhoben und zwar, wie festgestellt werden konnte, von dem oben genannten Postbank-Konto Kontonummer 799489200, BLZ 20010020, aus folgendem.
Aus einem Vergleich der in der Buchungsmaske angegebenen E-Mail-Adressen bzw. deren Hauptnamensbestandteilen ergibt sich, dass Varianten des Namens „Frank Meyer“ und „Felix Geissler“ sowohl für Ticketbuchungen, deren Gewinne auf die Postbank Hamburg gingen, verwendet wurden, als auch für solche, deren Gewinne auf das Konto der Ziraat Bank gingen. Für den Namen „Frank Meyer“ gilt das etwa in den Fällen 641 bis 644, 648 bis 656, 661 bis 669 für das Postbank-Konto und in den Fällen 354 bis 434 für das Ziraat Bank Konto. Für Felix Geissler gilt das etwa in den Fällen 548 bis 640 für das Postbank-Konto und in den Fällen 435 bis 469 für das Ziraat Bank Konto. Ein Abgleich, der bei den Ticketbuchungen bei der Deutschen Bahn AG mitgeloggten IP-Adressen ergibt außerdem, dass der Stamm der IP-Adresse „89.204.“ bei Buchungen bzgl. Beider Konten auftaucht, was auf die Nutzung eines Surf-Sticks zurückzuführen ist. Die weiteren Buchungen können über identische Elemente, wie IP-Adressen, verwendete E-Mail-Adresse und verwendete angebliche Anschriften in der Buchungsmaske zugeordnet werden, insbesondere durch die Kombination der Straße mit einer falschen oder nicht existenten Postleitzahl, etwa Baumweg 3, 34343 Berlin oder Kreuzgasse 8, 87347 München sowie die verwendeten Kreditkartennummern.

Am 03. Und 04.06.2013 machte der Beschuldigte Emre Ates umfassende geständige Angaben zu allen ihm hier vorgeworfenen Taten, die sich nach bisheriger Auswertung der Beweismittel und insbesondere der verwendeten PCs hinsichtlich seines eigenen Tatbeitrags bestätigt haben.
Weiter wird der Beschuldigte Emre Ates belastet durch die Angaben des gleichfalls Beschuldigten Adnan Polat, bei dem am 06.08.2013 durchsucht wurde. Dieser wurde anschließend vernommen. Nachdem kurz nach der Vernehmung seitens des Verteidigers der Polat die ordnungsgemäße Belehrung in Zweifel gezogen wurde, hat dieser mit Schriftsatz vom 29.08.13 die Angaben bestätigt.

Gegen den Beschuldigten Emre Ates besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO, da bei Würdigung die Gefahr besteht, dass der Beschuldigte sich dem Strafverfahren entziehen werde. Dem Beschuldigten Emre Ates liegen gewichtige Straftaten zur Last. Über einen Zeitraum von über acht Monaten hat er beinahe täglich Vergehen des gewerbsmäßigen Computerbetrugs begangen. Die Vorgehensweise war sehr gut organisiert und auf eine optimale Verschleierung aller Spuren und seiner Identität angelegt. Ihm ist bestens bekannt, wie man über sogenannte „Schwarze Foren“ im Internet ausgespähte Kreditkartendaten, Bankkonten und anderes, wie z.B. gefälschte Ausweise, erhält. Er dürfte nach vorläufiger Einschätzung eine deutliche Freiheitsstrafe zu erwarten haben. Der Beschuldigte hat zudem bei seiner Ergreifung Anstalten zur Flucht getroffen. Der Verbleib des Großteils des Gewinns ist ungeklärt. Aus einem auf dem PC Medion gesicherten ICQ-chatverlauf (Stehordner Chat-Verlauf PC Medion, BL. 23, ff)- der PC wurde sichergestellt durch die BPoli Kassel am 22.08.2012 -, ergibt sich, dass er von 18.000 € Gewinns aus einer früheren Tatphase nur 2.000 € verzockt hat und außerdem mit seinem Bruder geteilt habe. Der Verbleib dieser 9.000 € ist ungeklärt. Aus dem Zwischenbericht III der BPoli Köln (hiesiges Verfahren 171 Js 109044/12) geht jedoch hervor, dass über die E-Mail-Adresse harold.kaefer@yahoo.de , die auch regelmäßig für die Bahnticketbestellungen benutzt wurde, über 7.000 € über den eWährungstauscher Dagensia in Prag an ein Konto des inzwischen vom FBI im Mai 2013 abgeschalteten Internetbezahlsystems Liberty Reserve S.A. überwiesen wurde. Es ist davon auszugehen, dass die Überweisung von Geldern auf ein Liberty Reserve Konto nur eine Methode war, die Gewinne zu sichern und dass die Gewinne aus dem hiesigen Verfahren gleichfalls über anonyme Internetbezahlsysteme weitergeleitet wurden und mindestens teilweise noch verfügbar sind und so auch der Finanzierung einer Flucht dienen können. Es mag also sein, dass der Beschuldigte durchaus in einem gewissen Rahmen, wie er sagt, spielsüchtig ist, jedoch ist das Ausmaß der Spielsucht als eher gering einzuschätzen, zumal sich auf dem bei der Durchsuchung am 05.04.2013 sichergestellten PC bislang wohl keine Hinweise auf die Kontakte zu Online-Wettanbietern gefunden haben.

Weiter hat seine Familie verwandtschaftlich Beziehungen in der Türkei. Er selbst sowie sein Bruder und seine Mutter waren im Sommer 2012 in der Türkei.

Der Beschuldigte hat zwar einen Studienplatz in Esslingen und er hat dieses Studium bereits vor dem Wintersemester 2013/2014 begonnen –

Jedoch ist nach der Gesamtschau der Umstände zu erwarten, dass sich der Beschuldigte dem Verfahren entziehen wird, wenn er auf freien Fuß käme.

Bei dieser Sachlage kann das Verfahren nur durch den Vollzug der Untersuchungshaft ausreichend gesichert werden. Mildere Maßnahmen im Sinne des § 116 StPO reichen hierzu angesichts der Stärke des Fluchtanreizes nicht aus.

Henker
Richter/in am Amtsgericht“

Mein Hals war total trocken, obwohl ich kein Wort gesagt hatte, mir blieb die Spucke weg. Mit eiskalten Händen unterschrieb ich irgendeinen daher gelegten Zettel, wahrscheinlich eine Art Kenntnisnahme des Haftbefehls.
Herr Mayer schien langsam von seinem Winterschlaf aufzuwachen und schien mit dem Haftbefehl völlig einverstanden zu sein. Der spanische Vollzugsbeamte brachte die Handschellen erst wieder an, als die Richterin und ihre Gehilfin aus dem Raum gingen. Wie ein kastrierter Hunde ging ich gesenkten Hauptes, angekettet am Beamten, in das Foyer des Amtsgerichts.
Mein Vater wartete mit lächelndem Gesicht auf mich, wohlwissend, dass es nicht gut ausgegangen war. Ich war überrascht, als er mir mit tröstenden Worten kam: „Das wird schon mein Sohn, habe noch etwas Geduld, bald kommt ihr raus.“
Er fragte den Spanier, ob er ein Foto von mir in Handschellen schießen dürfe. Interessanterweise erlaubte er dies. Auch, wenn es mir total schlecht ging, fand ich es lustig, dass mein Vater solch ein Foto von mir haben wollte.

Nach der kurzen Verabschiedung von meinem Vater kam noch kurz mein Anwalt, der sich in irgendeiner Ecke versteckt haben muss: „Ich besuche Sie übermorgen, Herr Ates, dann können wir alles Weitere besprechen.“ Er verschwand, und ich saß im Transporter zurück in die JVA, blickte während der Fahrt auf die Straße und blies Trübsal.

Die Andeutung eines Grinsens machte sich in meinem Gesicht breit. Ich dachte daran, dass ich vorhin, als mein Vater ein Foto von mir schoss tatsächlich in die Kamera gelacht hatte. Doch das Grinsen hielt nur kurz, als mir klar wurde, dass ich aus dem neuen Haftbefehl keine neuen Informationen ziehen konnte. Es las sich vielmehr wie mein Geständnis, auf dessen Basis sie die Anordnung der weiteren Untersuchungshaft begründeten.
Die Suche nach der Antwort auf die Frage, wann ich endlich rauskäme, raubte mir – wie so oft – den Schlaf und nahm mir die Lust an jeder Tätigkeit.

„Er dürfte nach vorläufiger Einschätzung eine deutliche Freiheitsstrafe zu erwarten haben,“ hatte die Richterin gesagt. Dieser Satz würde mich noch eine Weile beschäftigen.

PS: Würde mich über jeden neuen Facebook-Like freuen
 

BeSure

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Kapitel 35 - Affengeschmack

Der Ausflug zum Amtsgericht endete also weniger erfreulich als gedacht, die Verhandlung ließ noch auf sich warten. Mehr als fünf Monate hatte ich bereits hinter mir, doch noch immer hoffte ich, dass es sich nur noch um Wochen handeln würde.

Der Knastalltag hatte mich trotz allem wieder im Griff, ich war auf den Boden der Tatsachen zurückgekehrt. Morgens den Müll einsammeln und wegbringen, die Gänge und Räume fegen und wischen, Essensausgabe am Mittag und am Abend und bei Neuankömmlingen „Starter-Packs“ vorbereiten – das waren meine täglichen Aufgaben.

„Emre, ich muss zugeben, du bist ein stabiler Junge. Kein einziges Mal habe ich dich meckern hören, du hast dich besser integriert, als ich es erwartet hätte. Meinst du nicht auch, Savas?“ Tayfun sah meinem Gesicht wohl an, dass ich deprimiert war. Wir aßen gerade zu Abend, und hatten wieder mal Nudeln mit Thunfischsoße gekocht. Mit ein wenig Erschrecken stelle ich fest, dass sich bei mir ein kleines Bäuchlein bildete – die Kost in der Haft war nicht die gesündeste.. „Haha, der Junge ist schon stabil. Voll der Betrüger ey, ich habe seinen neuen Haftbefehl gelesen, du hast es der Deutschen Bahn voll gegeben“, schmatzte Savas. „Ich bin nicht stolz darauf, im Nachhinein hat es sich ja nun leider nicht bezahlt gemacht.“ Ich begriff erst allmählich, dass es kein Kinderspiel gewesen war, was ich da durchgezogen hatte. Der Ernst der Lage wurde mir bewusster…jeder Tag, den ich hier verschwendete, rief mir diesen Fakt ins Gedächtnis. Savas klopfte auf meine Schulter: „Hey Emre, ich würde mich auch schlecht fühlen, so als Betrüger. Aber auf Deutsch klingt das nicht mal so schlimm. Betrüger – Was ist das schon? Aber auf Türkisch, ja, da heißt es einfach „dolandırıcı“, haha, das ist ein ziemlich krasses Wort. Dein Vater denkt jetzt die ganze Zeit daran, dass sein Sohn ein „dolandırıcı“ ist.“ Offensichtlich wollte er mich damit provozieren. Doch diesmal musste ich kontern, auch wenn ich seine Reaktion nicht einschätzen konnte: „Also Savas, auf Deutsch hört sich Zuhälter auch nicht so schlimm an. Aber auf Türkisch? Da heißt es einfach „pezevenk“, was ja, wie du wahrscheinlich weißt, eines der übelsten Schimpfwörter im türkischen Sprachgebrauch darstellt.“ Alle lachten, auch Savas. Nachdem ich wieder mal den Abwasch gemacht hatte, kam Savas auf mich zu und machte eine „Komm-Mit“-Handbewegung. Ehe ich mich versah, befanden wir uns in meiner Zelle, wobei die Tür von Tayfun bewacht wurde. Bevor ich fragen konnte, was los war – ich stelle mich schon auf eine Entschuldigung wegen des Witzes vorhin ein – fragte er: „Du warst in der Zelle bei Kartal. Herr Nils hat dich da einfach so reingelassen?“ Ich bejahte überflüssigerweise, schließlich hatte ich ihm ja bereits erzählt, dass ich ein Käffchen mit Kartal getrunken hatte. „Ich habe mit ihm in der Freizeit durch den Türschlitz geredet, und der meinte, dass du es auch weißt.“ Savas sprach es bewusst nicht aus – ich hingegen nahm kein Blatt vor den Mund. „Meinst du die Tabakdose?“, wollte ich von ihm wissen. Er grinste erst und nickte dann. „Guck mal, Emre, du bist Reiniger. Die erwischen das Ding bei Kartal, so oft wie seine Zelle kontrolliert wird. Zu einem geeigneten Zeitpunkt übergibt er dir die Tabakdose, verstehst du? Versteck sie bei dir, Reiniger werden nie kontrolliert.“ Nun war ich in einem Dilemma: einerseits fiel es mir immer schwer, Nein zu sagen, die übliche Problematik eben – und andererseits hatte er mir gar keine Frage gestellt oder mich um etwas gebeten, er hatte es mir quasi befohlen, was mir sehr hart gegen den Strich ging. Meine Überlegungen unterbrach er mit einem Angebot: „Du kannst das Gerät auch benutzen, wir kümmern uns um das Guthaben.“ „Geht klar.“ Ich schlug ein, damit hatte ich mir soeben eine Vorrangstellung bei unseren Türken verschafft.

Die Tage vergingen, und ich besuchte jeden Morgen Kartal in seiner Zelle. Es war nicht nur Herr Nils, der mich in die Zelle von Kartal ließ. Offenbar hatten die meisten Beamten Mitleid mit ihm, weil er sonst keinerlei soziale Kontakte hatte und sich wenigstens mit mir verstand. „Trinkst Du Cappuccino? Ist mit Schokoladengeschmack.“ Das Angebot von Kartal nahm ich dankend an, ich liebte Schokolade und Kaffee pur war mir immer zu stark. Wir redeten über Gott und die Welt, über unsere Zukunftspläne, über unsere Vergangenheit und über unsere Familien. „Haha Mist, ich muss aufs Klo, tut mir echt Leid“, meinte er plötzlich mitten im Gespräch. Ich drückte auf den Notruf, da unsere Zellentür verschlossen war, und bat den Beamten, mich rauszulassen. „Ich muss zufällig auch“, ich grinste Kartal an, während ich an der Zellentür wartete, bis ebendiese aufging. „Bist Du auch laktoseintolerant, oder wie?“ Diese Frage konnte ich ihm zu dem Zeitpunkt noch nicht beantworten, weil ich das Wort nie zuvor gehört hatte. Der Beamte machte mir die Tür auf und drückte mir einen Besucherzettel in die Hand. „Mein Anwalt? In einer Stunde?“ Ich schaute ihn fragend an, er nickte. Schnell sprang ich unter die Dusche, immerhin hatte ich den ganzen Vormittag Kontakt mit irgendwelchen Chemikalien gehabt und musste dank meines Anwalts auch nicht zur Mittagsessensausgabe. Gerade als ich am Duschen war, kam Kartal rein: „Ich darf duschen, bis die anderen von der Arbeit kommen“. Er grinste und begab sich, wie üblich bei uns Türken nur mit Unterhose bekleidet, unter die Dusche. „Weißt Du, Emre, ich habe meinen Körper erst in der Haft richtig kennen gelernt. Davor habe ich nie drauf geachtet.“ Es war seltsam, dass er mir das sagte, während er seinen Körper rasierte. „Was ist denn diese Laktose?“, wollte ich von ihm wissen. Als er mich aufklärte, kamen plötzlich Erinnerungen an meine Kindheit hoch: „Ich glaub, ich habe das auch?! Ich kann mich noch erinnern, dass meine Mutter mir damals zu Grundschulzeiten immer heiße Milch gekocht hat, bevor ich zur Schule ging. Und jedes Mal musste ich zurück nach Hause laufen, weil ich dann dringend aufs Klo musste.“ Er lachte ein wenig: „Ja, siehst du! Ich würde an deiner Stelle mal rumexperimentieren, das findet man in der Regel schnell heraus. Und du gehst gleich zu deinem Anwalt? Wer ist es denn?“ Als ich ihm den Namen nannte, verzog er die Mimik: „Also, ganz ehrlich Emre, wer hat dir denn den alten Sack empfohlen? Der ist total schlecht, mein Mittäter hatte den.“ Das ganze Ich-habe-den-besten-Anwalt-Gerede ging wieder los, und er empfahl mir wärmstens einen sogenannten Herrn Steiner. Nach der Dusche zog ich mich an und schilderte ihm mein bisheriges Pech mit den Anwälten: „Und darum kann ich jetzt nicht nochmal meinen Anwalt wechseln. Mein Vater meint sonst wieder, ich hätte einen ‚Affengeschmack’, das tut er nämlich immer, wenn ich mich oft umentscheide. Ich glaube, der übersetzt das 1:1 aus dem Türkischen, und da bedeutet es einfach, dass man gierig wie ein Affe sei.“

Ein Beamter brachte mich hinunter in die Besucherräume, und diesmal durfte ich glücklicherweise direkt zu meinem Anwalt, ganz ohne Wartezeit. „Ich fühle mich wie ein VIP-Häftling, wieso darf ich gleich rein?“, wollte ich vom Beamten wissen, als ich in Richtung Besucherraum geführt wurde. „Na, Du musst noch Essen ausgeben, der andere Reiniger ist sonst alleine.“ Ich schaute ihn verdutzt an: „Wieso das? Wo ist der andere?“ Er öffnete die Tür: „Er hatte heute eine Gerichtsverhandlung und wird entlassen.“ Als ich davon hörte, keimte ein starker Neid in mir auf. Ich begab mich mit ziemlich mieser Laune zu meinem unfähigen Anwalt. Nach einer laschen Begrüßung und sinnlosem Smalltalk über das Wetter kam mein Anwalt endlich zu den Fakten: „Ich habe mit der Staatsanwältin geredet, die Ermittlungen dauern leider noch an. Der Fall ist sehr groß. Wir müssen leider mit der Gerichtsverhandlung warten, da die Anklageschrift noch verfasst werden muss, was wiederum erst geschieht, sobald die Ermittlungen beendet sind. Ihre U-Haft wurde bis zum 15.01.2014 verlängert, spätestens dann haben Sie ihre Gerichtsverhandlung.“ Das waren keine guten Nachrichten. Es war das erste Mal, dass ich nicht nach seiner Einschätzung bezüglich meiner endgültigen Haftstrafe fragte. „Da ist noch etwas wegen ihrer doppelten Staatsbürgerschaft. Ihre Eltern meinten, dass sich das Landratsamt gemeldet habe. Sie sollen Ihren türkischen Pass abgeben, ich habe das nicht ganz verstanden, ihre Mutter meinte, Sie würden wissen, um was es geht?“

Mir wurde plötzlich ganz heiß. Ich hatte das Thema „Staatsbürgerschaft“ total vergessen und, so muss ich gestehen, auch ziemlich vernachlässigt. „Ich habe die doppelte Staatsbürgerschaft, also sowohl die türkische, als auch die deutsche. Allerdings muss ich spätestens zu meinem 23. Lebensjahr eine von beiden Staatsangehörigkeiten abgeben. Kurz vor meiner Verhaftung bin ich zum türkischen Konsulat und habe mitgeteilt, dass ich meinen türkischen Pass abgeben möchte. Daraufhin meinten diese, ich müsse erst meinen Wehrdienst in der Türkei verlängern – das sei die übliche Prozedur. Nachdem ich meinen Wehrdienst verlängert habe, könne ich die weiteren Schritte zur Abgabe meines türkischen Passes einleiten. Also habe ich den Antrag auf Verlängerung meiner Wehrdienstpflicht gestellt. Kurz vor meiner Verhaftung kam dann auch die Bestätigung, dass meine Wehrdienstpflicht verlängert wurde. Doch bevor ich zum Konsulat gehen konnte, um meinen türkischen Pass abzugeben, wurde ich verhaftet. Das Landratsamt entzieht mir automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft, wenn ich bis zu meinem Geburtstag nicht nachweisen kann, dass ich die türkische Staatsbürgerschaft abgegeben habe.“ Der Anwalt schien bei der langen Erzählung fast eingeschlafen zu sein. „Ich werde mich nochmals mit ihrer Mutter in Verbindung setzen, um das zu klären“, sagte er vage zur Verabschiedung.

Nachdem ich mich in den Warteraum begeben hatte Afund vom Beamten direkt zur Essensausgabe hochgebracht wurde, konnte ich mich nach knapp einer Stunde auf mein Bett legen und mich in meine Gedanken vergraben. Ich musste irgendetwas wegen meiner Staatsbürgerschaft tun. Am besten würde es sein, wenn ich den Sozialarbeiter in der Sache aufsuchte. Als meine Gedanken zu der verlängerten U-Haft schweiften, bekam ich einen Hass auf die Beamten, dass die Ermittlungen so schleppend voran gingen…Plötzlich unterbrach mich ein Klopfen an meine Zellentür.

„Herr Ates, möchten Sie auch zur Opferfest-Veranstaltung?“

Es war der Beamte Herr Winter. Mit einem Zettel und einem Stift in der Hand stand er neben meinem Bett. Ich stand auf und fragte nach, was genau das sei. „Zu eurem religiösen Fest kommt das türkische Konsulat. Sie haben angegeben, dass sie Moslem sind. Also dürfen Sie da auch hin.“ Ich war überrascht: „Das türkische Konsulat … von Stuttgart?“ Er bejahte meine Frage. Das war mehr als nur ein glücklicher Zufall! „Sie müssen nur hier unterschreiben.“ Er legte den Zettel auf den Tisch und übergab mir den Stift.

Als ich unterschrieb, wurde mir plötzlich schlecht, als ich zufällig neben das Blatt schaute.

Auf meinem Tisch lag eine Tabakdose. Und hinter mir stand noch immer Herr Winter.
 

BeSure

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Kapitel 36 - Deutscher mit Migrationshintergrund

„Man, Savas! Was soll das? Kartal ist während meiner Abwesenheit einfach in meine Zelle und hat die Tabakdose auf meinen Tisch gelegt!“

Ich war stinksauer. Savas sollte meines Erachtens nach mit ihm klären, dass so etwas nicht angeht. „Hast du es jetzt? Alter, geil Emre.“ Ich hatte Savas schon lange nicht mehr so glücklich gesehen, mit seiner Gebetskette in der rechten Hand und Tayfun an seinem linken Kleinfinger, fing er an, „Halay“ (ein traditioneller türkischer Festtanz) zu tanzen. „Ey man, Savas, jetzt hör mir mal zu! Was wäre passiert, wenn der Beamte gesehen hätte, dass der Kartal nach der Dusche noch in meine Zelle geht? Außerdem hat Herr Winter die Tabakdose auf meinem Tisch gesehen. Der weiß doch ganz genau, dass ich Nichtraucher bin.“ Ich war genervt von den Freudensprüngen der beiden, was sich noch weiter verschlimmerte, als ich merkte, dass ich auf taube Ohren stieß. „Jetzt chill mal, Emre. Der Winter denkt bestimmt, dass du die Tabakdose zum Tauschen gekauft hast, der weiß doch ganz genau, dass Tabak die Währung im Knast ist.“ Für mich milderte dies keineswegs die Umstände, denn die Tauschgeschäfte waren genauso verboten, wie jemandem Schulden zu geben…oder eben, ein Handy zu besitzen. Nur griffen die Beamten bei Letzterem konsequenter ein.

In der Nacht löste jede Stimme und jedes Schlüsselgeräusch ein starkes Herzklopfen in mir aus, denn die Tabakdose hatte ich sehr auffällig im Schrank verstaut. Ich setzte darauf, dass es gerade deswegen nicht auffallen würde. Der Schlaf kam erst, als ich einen genialen Einfall zu einem sicheren Versteck hatte:

Jeden Morgen sammelten wir den Müll der Zellen in blauen Säcken ein. Wir hatten zusätzlich größere Mülltonnen mit blauen Säcken, die wir für den aufkommenden Müll nutzten, der bei den Reinigungsarbeiten so anfiel. Ich würde die Tabakdose einfach zum restlichen Müll in einen der Mülltonnen werfen…und müsste nur jeden Morgen, bevor ich die blauen Säcke nach draußen bringe, darauf Acht geben, dass die Tabakdose dann im neuen, frischen, blauen Sack landete. Außerdem war ich für den Müll zuständig, der andere Reiniger würde sowieso nichts mitbekommen. Der Deutsche war entlassen, er hatte auch nur wegen Dealens mit Gras gesessen. Nebenbei fragte ich mich, wen sie wohl als neuen Reiniger nehmen würden?

Am nächsten Morgen gab ich meinen Antrag für den Sozialarbeiter direkt beim Beamten ab, als er die anderen Anträge der Häftlinge sortierte. Es war wieder mal Herr Nils da, und abermals erwies er sich als der beste Beamte, den ich je getroffen hatte. „Ah, was willst Du denn vom Sozialarbeiter?“, fragte mich Herr Nils, nachdem er meinen Antrag überflogen hatte. Ich erklärte ihm kurz mein Dilemma, woraufhin er seufzte: „Na, dann hoffen wir mal, dass der Sozialarbeiter dir helfen kann.“ Ich begriff zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass er damit die Möglichkeiten des Sozialarbeiters gemeint haben muss. Er zweifelte wohl daran, dass dieser mir würde helfen können. „Was hältst du eigentlich von eurem Türken da? Dem Yilmaz?“, fragte er beiläufig. Ich erwiderte seinen fragenden Ausdruck mit dem gleichen Fragezeichen im Gesicht: „Er hat sich nämlich für den nächsten Reinigerposten beworben“, fuhr er fort. Ich überlegte kurz, denn eigentlich hasste ich diesen Kerl. Außer zu Meckereien war er zu nichts wirklich fähig. Aber… vielleicht war es besser, einen weiteren Türken als Reiniger-Kollegen zu haben. Auch würde er sicherlich weniger rumheulen, wenn er etwas gelockerte Haftumstände durch den Reinigerposten hätte. Gerade in Bezug auf das Handy würden unsere Türken es wohl begrüßen, dass der andere Reiniger mich nicht verpfeifen würde, wenn er wegen des Handys Verdacht schöpfte. Durch Yilmaz würde die Gefahr schon einmal um die Hälfte sinken, da er zu unserer Truppe gehörte. „Ja, weiß nicht, eigentlich ist der ganz nett. Er ist auch total sauber, seine Zelle ist immer schön aufgeräumt. Sein Deutsch ist auch sehr gut, ich denke, zumindest an der Kommunikation würde es nicht scheitern.“ Er schien diese Information wohlwollend zur Kenntnis zu nehmen.

Ich ging meinem Tagewerk als Reiniger nach und sah den Sozialarbeiter immer durch die Gänge schlendern, aber nie kam er zu mir. Als ich dann gegen mittags, kurz bevor die Mittagsessen-Ausgabe anstand, ungeduldig wurde, sprach ich ihn an. Gerade als er in sein Büro, welches neben dem Beamten-Büro war, hineinspazieren wollte, hielt ich ihn an: „Herr Adler, Sie haben meinen Antrag wohl noch nicht erhalten?“ Obwohl es eine rhetorische Frage war, antwortete er knapp darauf, dass er auf mich zukäme, sobald er etwas wisse. Das Wochenende brach an, und der Sozialarbeiter hatte mich immer noch nicht zu sich bestellt. Das Handy in der Tabakdose versteckte ich über das Wochenende in der Mülltonne in der Besenkammer. Soweit mir bekannt war, wussten neben mir nur Kartal, Savas und Tayfun Bescheid. Auch teilte Kartal mir mit, dass sich momentan kein Guthaben darauf befände, doch dass Savas sich darum kümmern wolle. Am Wochenende gab es das übliche Programm, morgens Teeausgabe, mittags Essensausgabe, nachmittags dann zwei Stunden Umschluss (ich ging mit ein dutzend Leuten in den Freizeitraum und spielte Poker mit Schokolade als Einsatz), gefolgt vom Hofgang und danach gab es die Abendessensausgabe. Meist verfasste ich Samstag und Sonntag abends Briefe an meine Familie, je nach Gemütslage waren diese entweder voller Trauer (ich verlangte förmlich nach Mitleid) oder ich erzählte von lustigen Vorfällen. Yilmaz wurde in der Zwischenzeit zum Reiniger ernannt, weshalb ich ihn am Wochenende einlernte und dementsprechend bis zum Einschluss am Hals hatte.

Die Woche begann mit einem Besuch. „Ist mein Vater da, oder meine Mutter, oder beide?“, wollte ich vom Beamten wissen, der mich in den Besucherraum begleitete. „Weiß ich nicht, da ist ein Mann.“ Der Beamte konnte daraus wohl nicht schließen, dass der Mann nicht meine Mutter sein konnte. „Mist, ich habe 30 Minuten Besuch, stimmt’s? Können Sie mich nicht einfach nach 15 Minuten rausholen, mit irgendeinem Vorwand, dass ich zur Essensausgabe muss, oder so?“, mein deprimiertes Gesicht schien den Beamten nicht davon abzuhalten, meine Frage als Witz aufzufassen: „Das ist doch nicht Ihr Ernst, oder?“ Ich nickte, er schüttelte nur den Kopf und schon befand ich mich bei meinem Vater. Nach der Begrüßung setzte ich mich hin und fing an, die Süßigkeiten zu naschen. Wenigstens das machte mein Vater, er kaufte mir einen Haufen Süßigkeiten, und Kaffee gab es auch dazu. Das war pure Nervennahrung und die brauchte ich dringend: nach Gesprächen mit meinem Vater fühlte ich mich schlechter als zuvor. Diesmal durfte ich zu hören bekommen, was für ein Idiot ich war, dass ich mich nicht um meine Staatsangehörigkeit gekümmert hatte, obwohl er es mir seit meinem 18. Lebensjahr immer wieder ans Herz gelegt hatte. Er hatte auch meist Recht mit dem was er sagte, nur die Art und Weise, wie er etwas sagte oder eben wie das bei mir ankam, machte mich sauer. Dass mir die Gespräche total auf den Zeiger gingen, konnte ich ihm auch nicht sagen. Ich schluckte alles und kotzte dann unglücklicherweise bei meiner Mutter über meinen Vater ab, sobald sie mich alleine besuchen kam. „Das türkische Konsulat meint, du müsstest persönlich erscheinen, um die Dokumente zu unterschreiben, die JVA würde Dich zum Konsulat transportieren müssen, solche Fälle hätten sie schon paar Mal gehabt.“ Diese Aussage meines Vaters nahm ich mit zum Gespräch mit dem Sozialarbeiter. Nach der Verabschiedung von meinem Vater begab ich mich direkt zur Essensausgabe, um danach sofort an der Tür des Sozialarbeiters zu klopfen. Ich wollte ihm die Dringlichkeit meines Anliegens nochmals ins Gedächtnis rufen. Die Tür ging tatsächlich auf und der Sozialarbeiter, Herr Adler, stand vor mir: „Ja, was gibt es?“

Nachdem ich ihn darauf hingewiesen hatte, dass ich nun knapp eine Woche auf ihn gewartet hatte und mir die Zeit wegen meines deutschen Passes davonlief, schaute er nur verdutzt, als hätte er es vergessen und als sei ihm gerade ein Licht angegangen. „Treten Sie ein.“ Er zeigte auf einen Sitzplatz und setzte sich vor seinen Computer. Sicherlich hatte er damit Zugriff auf das Internet. Wie gerne würde ich jetzt auf irgendwelchen Newsseiten rumstöbern, auf Facebook schauen, was die Leute so trieben, und natürlich auf die Seiten gehen, die mit „You“- begannen, jedoch nicht auf „Tube“ endeten.

Zurück von meinen Fantasien des Internets, erklärte ich Herrn Adler, dass ich meinen deutschen Pass verlieren würde, wenn ich nicht bald zum türkischen Konsulat transportiert würde. Er war mir keine große Hilfe, lediglich zwei Argumente weshalb ich nichts unternehmen bräuchte, warf er mir auf den Tisch: „Sie können nicht einfach so zum Konsulat transportiert werden. Diese Möglichkeit besteht nur für Strafhäftlinge, als U-Häftling ist sowas nicht möglich. Außerdem werden solche Angelegenheiten wie Bürgerschaftsprozesse während der Haft stillgelegt, Sie müssen nichts befürchten, kümmern Sie sich entweder in der Strafhaft oder nach ihrer Entlassung darum.“ Nun verstand ich, worauf Herr Nils hinaus wollte, als ich ihm gesagt hatte, dass ich die Hilfe vom Sozialarbeiter aufsuchen würde.

In Bezug auf meine Staatsbürgerschaft ergriff ich von nun an keine Eigeninitiative mehr und vertraute dem Sozialarbeiter. Savas hatte in der Zwischenzeit Guthaben für das Handy besorgt und begann, in der Freizeit zu telefonieren. Dieses Zeitintervall war jedes Mal mit Risiken für mich verbunden, denn damit Savas und Tayfun abends in der Freizeit ab 18:00 Uhr telefonieren konnten, musste ich das Handy vor 15:30 Uhr aus dem Mülleimer in der Besenkammer holen und in meine Zelle legen. Ab da wurden die Räume nämlich geschlossen, und der Hofgang begann. Täglich befand sich das Handy also für knapp 3 Stunden in meiner Zelle, weshalb ich auch während meiner Hofgänge gedanklich immer bei meiner Zelle war. Es war nicht unüblich, dass während des Hofgangs Zellen kontrolliert wurden. Das ganze Thema mit dem Handy hatte sich zudem sehr schnell rumgesprochen, ein Russe kam während der Freizeit zu mir: „Hey Emre, hast Du was von einem Handy gehört? Die im ersten Stockwerk haben gesagt, dass die Türken im zweiten Stockwerk ein Handy besitzen.“ Ich konnte meinen Ohren nicht trauen, die beiden Vollpfosten Savas und Tayfun wollten mich ins offene Messer laufen lassen. Wie konnten die nur das Geheimnis nicht für sich behalten? Ich suchte sofort das Gespräch mit den beiden auf, welches aus meiner Sicht jedoch in die völlig falsche Richtung lief: „Emre, keine Angst, wenn etwas passiert, dann nehmen wir das auf uns.“, meinte Tayfun, „Ja? Warum versteckt ihr das Handy dann nicht gleich in eurer Zelle?“ Die Antwort von Savas klang logisch: „Weil die Reiniger-Zellen und Besenkammern viel seltener kontrolliert werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass die das Handy finden, ist so geringer.“ Wie ich erfuhr, machten sie Deals mit dem Handy. Ein Russe hatte den beiden tatsächlich eine Tabakdose im Wert von ca. 20.00 EUR (eine beachtliche Summe für Knastverhältnisse) gegeben, um eine halbe Stunde telefonieren zu dürfen. Ich fuhr also mit dem Verstecken des Handys fort, telefonierte jedoch kein einziges Mal damit. Meine Familie würde es nicht verstehen, wenn ich sie anrief. Auch, als der Tag des Opferfests anbrach, traute ich mich nicht, meine Eltern anzurufen, und ihnen zu unserem religiösen Fest zu gratulieren. Dennoch gab es Grund zur Freude: es sprach sich herum, dass das türkische Konsulat für jeden angemeldeten Teilnehmer des Opferfests Döner, Ayran und Baklava mitbringen würde. Herr Nils brachte uns Türken zum anderen Gebäude, in dem das Fest stattfinden würde: „Herr Ates, Sie gehen auch mit? Sind Sie denn überhaupt Moslem?“ Er grinste etwas, ich hatte in vorangegangen Gesprächen nämlich durchaus Skepsis bezüglich des Glaubens durchsickern lassen. „Herr Nils, für einen Döner bin ich der frommste Moslem, den Sie je gesehen haben. Außerdem muss ich mit dem Konsulat wegen meiner Staatsbürgerschaft reden. Ansonsten werde noch zum richtigen Türken, wenn die mir meinen deutschen Pass wegnehmen.“ Ich lief mit ihm voran, so dass die anderen Türken nicht wirklich was von unserer Unterhaltung mitbekamen. „Was? Du bist doch Türke, egal, ob mit deutschem Pass, oder nicht.“ Ich lächelte ihn an: „Herr Nils, ich bin Deutscher mit Migrationshintergrund.“

Ich traute meinen Augen nicht, als ich dann abends tatsächlich mit zwei Dutzend anderen Häftlingen vor diesen Speisen saß und während des Essens den Leuten vom türkischen Konsulat bei ihrer Rede zuhörte. Es war ein Fest für meinen Gaumen, als ich den leckeren, knusprig-saftigen Döner regelrecht verschlang, den salzig-frischen Ayran aus der Kühlbox in großen Schlucken austrank und mir das übersüße Baklava im Mund zergehen ließ. Jeder durfte sich kurz vorstellen, und als ich an der Reihe war, ergriff ich die Chance und erzählte von meinem Konflikt wegen meiner deutschen Staatsbürgerschaft. Einer der Herren des Konsulats diskutierte mit mir. Vor allem erzählte ich ihm von dem Problem, dass ich als U-Häftling wohl nicht zum Konsulat transportiert werden durfte. Der Herr schrieb sich meinen Namen auf und versprach mir, meinen Eltern das Dokument mitzugeben, damit ich es hier vor Ort signieren darf. Das wäre eine Ausnahme, da es unter diesen Umständen keine Alternative gäbe.

Ich war sehr glücklich, dass der Abend noch so ausging – bis der Herr vom Konsulat mich noch kurz vor dem Abschied fragte, wann denn eigentlich mein Geburtstag sei, an dem ich dann auch spätestens meinen türkischen Pass abgegeben haben müsse: „Am 01. Dezember, also in etwas mehr als einem Monat“, meinte ich zunächst gelassen. Seine Mimik sprach Bände: „Ach Du meine Güte. Das wird dann aber nichts! Es dauert mehrere Monate, bis der Vorgang abgeschlossen ist. Die Unterlagen müssen nämlich nach Ankara in die Türkei verschickt werden. Dort wartet man generell einige Zeit, bis sich mehrere Anträge gehäuft haben, und arbeitet dann alle ab. Probier es aber dennoch.“ Ich war entsetzt, die türkische Staatsbürgerschaft würde noch mehr Ärger bedeuten – vor allem vor dem Hintergrund meiner Haft. Diese blöden Prozesse in den Konsulaten hatten dringend eine Optimierung nötig. Mir kamen plötzlich Gedanken an meinen Ethiklehrer hoch: „Emre, erzähl Mal. Fühlst du dich eher türkisch oder deutsch?“ Ich war noch ein Teenager, mit solchen Fragen konnte ich nicht umgehen. Bisher hatte mir keiner diese Frage gestellt – und ich mir selbst auch nicht. „Ähm, ich weiß nicht. Ich bin doch irgendwie beides.“ Er schaute mich damals an, und stieß mit seiner nächsten Frage etwas bei mir an, was mich noch mehrere Jahre beschäftigen würde: „Du meinst also, dass du keine Identitätskrise hast? Du weißt ganz genau, wer du bist?“ Ich konnte mir diese Frage noch sehr lange nicht beantworten. Ich wechselte immer von „Ich bin Türke, ist doch klar“ zu „Ich fühle mich eher Deutsch“.

Würde diese Frage vielleicht bald vom Schicksal geklärt werden, wenn ich meine deutsche Staatsbürgerschaft verliere?
 

BurnerR

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Der Herr Ates, immer gut für nen schicken Cliffhanger am Ende des Kapitels :D :T
 

cokeZ

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@BeSure: Ohne Vorurteil oder sonst was jetzt, nur aus Interesse. Du warst ja nun einige Zeit drin, gibt es für Christen auch besondere Tage an denen sowas aufgefahren wird?
 

BeSure

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@BeSure: Ohne Vorurteil oder sonst was jetzt, nur aus Interesse. Du warst ja nun einige Zeit drin, gibt es für Christen auch besondere Tage an denen sowas aufgefahren wird?

Ja klar, Weihnachten und Ostern :)
Aber da hat jeder etwas bekommen, also Osterhasen, Weihnachtsmänner usw. :)
Hast natürlich recht, das mit dem Döner war nicht selbstverständlich;)

@Burner
Danke :)
 

BeSure

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@T_Low_Benz

Ja, verstehe ich total :)
Ich habe jetzt leider kein neues Kapitel, aber mal einen kurzen Ausriss aus meinem aktuellen Leben und wahrscheinlich auch der Begründung weshalb ich in letzter Zeit nicht viel schreiben konnte.

Da ihr wahrscheinlich schon erkannt habt, dass ich ein starkes Mitteilungsbedürfnis habe, werdet ihr euch sicherlich nicht über diese Exkursion wundern :P Hat wie gesagt (leider) keinen Bezug zu meinem Hafttagebuch. Wobei es doch zu der Thematik "Deutsche und türkische Staatsbürgerschaft" passt.

Exkursion
Während meines aktuellen Praktikums muss ich mich für mein Auslandssemester vorbereiten. Das Einholen diverser Unterlagen kostet viel Zeit und manchmal sogar Nerven. Kurzfristig wird mir von meiner Partnerhochschule mitgeteilt, dass ich ein IELTS Test, also ein Englisch Sprachtest, absolvieren muss. Dies soll zeigen, dass ich ein gewisses Niveau an Englisch-Kenntnissen besitze. Denn im Gegensatz zu meinen Kommilitonen die mit mir ins Auslandssemester kommen, muss ich als nicht EU-Staatsbürger diesen Test absolvieren und gleich mal ca. 250 EUR dafür zahlen. Dadurch, dass ich werktags 9 Stunden auf der Arbeit war musste ich meine Wochenenden für die Vorbereitung auf den Test opfern.
So leistete ich an Wochenenden meiner deutschen Freundin, ebenfalls Studierende, an der Universität Gesellschaft. Ja richtig, sie ist Deutsche und das stellt ein Problem für meine Familie dar. Somit war ich in letzter Zeit in gewissen Konflikten mit meiner Familie geraten und auch die Religion war ein großes Thema. Während meine Mutter mehr oder weniger versuchte ihre Toleranz gegenüber Nicht-Muslimen rüberzubringen, sprach mein Vater klare Wörter: „Ihr gehört verschiedenen Welten an. Wie ein Fisch welches im Meer lebt und ein Vogel der im Himmel umherfliegt. Ein Fisch und ein Vogel können nie zusammen sein. Wenn Du nur etwas Spaß mit ihr haben willst, dann ist es in meinen Augen falsch. Wenn Du es mit ihr ernst meinst, ist es in meinen Augen ebenfalls falsch. Deutsche Frauen denken nur an Sex und Geld, früher oder später wird sie dich betrügen und eine Ehe wird sie dann mit einer Scheidung beenden.“ Während er mir dann seine Aussagen mit zig Beispielen untermauerte, in denen türkische Männer Opfer deutscher Frauen wurden, kam in mir eine Übelkeit auf. Ohne Widerrede hörte ich ihm zu und versuchte Diskussionen zu vermeiden, da mir bewusst war, dass meine Worte keinen Einklang bei ihm finden würden. Der Stress nahm aber nicht ab. Auch wenn meine Eltern dagegen waren liebte ich meine Freundin so sehr, dass ich ihr Ende April anbot zu mir zu ziehen: „Wir sind sowieso tagtäglich zusammen, übernachten immer bei einem von uns beiden, lass uns die Miete sparen und dafür dann in den Urlaub fliegen. Wir sind beide ab Ende August sowieso im Ausland, Du könntest deine Wohnung bereits aufgeben.“ Es dauerte keine 2 Tage, da hatten wir bereits einen Untermieter gefunden und den Umzug von ihr zu mir vollzogen. Die Zeit die wir verbrachten war wunderschön. Mein Hafttagebuch hatte ich immer in Hintergedanken, doch nach der Arbeit bevorzugte ich es mit meiner Freundin noch schöne gemeinsame Stunden zu verbringen und an Wochenenden widmete ich diversen Angelegenheiten, angefangen vom Auslands-Bafög bis hin zur Vorbereitung für eine Klausur die mich bald erwarten würde.
Es hätte nicht schöner sein können, wir hatten auch unseren Urlaub für Ägypten gebucht, meine Urlaubstage hatte ich von meinem Arbeitgeber genehmigt bekommen und eine eve-Matratze zum 100 Tage Ausprobieren hatten wir auch bestellt.
Die Klausurphase meiner Freundin war bald vorbei, nur noch eine Woche hätte sie durchhalten müssen. Dann kam alles Schlag auf Schlag. Als sie sich in das Badezimmer begab schrie sie ganz leicht, ein Käfer krabbelte an den Wandfliesen. „Ist das eine Kakerlake?“ ich lachte, für mich war das ein Scherz. Dennoch sah der Käfer eklig aus, mit dem Staubsauger saugte ich ihn ein und warf den Staubsaugerbeutel weg. Erschreckenderweise sahen wir abends noch einen Käfer, es sah gleich aus, war nur kleiner. Mit einer rasanten Geschwindigkeit krabbelte es in die Badewanne, wir spülten es runter und gossen gleich Rohrreiniger hinterher. Plötzlich krabbelte es das Rohr wieder hoch, starb dann kurze Zeit später an der toxischen Rohrreiniger-Flüssigkeit. Als meine Freundin in dieser Nacht einschlief, da sie von ihren Klausuren zu erschöpft war, googelte ich nach Schaben. Ich hatte leider keine Bilder geschossen, doch ich hatte den Verdacht, dass wir wirklich Kakerlaken in der Wohnung hatten. Die ganze Woche begegneten wir allerdings keiner weiteren Schabe mehr und die Prüfungen meiner Freundin waren endlich vorbei. Als das Wochenende anbrach und wir noch bis spät in die Nacht wach waren überkam uns der Hunger. Meine Freundin wollte gerade Besteck aus dem Küchenschrank entnehmen, da schrie sie wieder laut auf. Ich kam sofort zu ihr, zwei Kakerlaken krabbelten umher. Diesmal schoss ich sofort ein Foto, wir packten die wichtigsten Sachen zusammen und begaben uns in unsere Elternhäuser, mehrere Stunden Fahrt in der Nacht mussten wir deswegen auf uns nehmen. Am Montag begab ich mich dann zur Arbeit, musste natürlich früher aufstehen als üblich und regelte alles mit dem Vermieter. Auch wenn es zuerst so schien als würde der Vermieter nicht mit mir kooperieren, konnte ich ihn überzeugen die Wohnung für Ende Juni, also zur nächsten Woche, zu kündigen. Ein Kammerjäger bestätigte mir, dass die Kakerlake auf dem Foto welches ich geschossen hatte eine deutsche Schabe war, die bekämpft werden sollte. Noch am Montag buchte ich mir ein Zimmer über airbnb, denn auch am selbigen Tag fand ich eine Wohnung für Ende Juni bis Ende August zur Untermiete. Sie war perfekt von der Lage und von der Grösse, auch die Miete war günstiger als die der jetzigen Wohnung. Als der Umzug dann am Wochenende vollbracht war und ich so gut wie alles außer unsere Klamotten weggeschmissen hatte, stand noch die Matratze von eve da. Meine Freundin und ich beschlossen diese zurück zu geben, denn zugegebenermaßen war sie keine 500 EUR Wert und ich fand sie nicht wirklich bequem. Ein vereinbarter Abholtermin an einem Montag konnte nicht stattfinden, da die Spedition bei der alten Adresse meiner Freundin antanzte, wir aber die aktuelle Adresse mitgeteilt hatten. Eve war zuvorkommend und bot uns an die Matratze am Montag Abend vor die Tür zu stellen, sie würden das Risiko im Falle eines Diebstahls tragen. Mit der Lösung war ich ganz und gar nicht einverstanden. Sollte es geklaut werden würde sicherlich irgendjemand, also entweder Eve, deren Versicherung oder die Spedition Anzeige gegen Unbekannt erstatten und dann würden die Polizisten erstmal bei mir auftauchen und meine Aussage wollen. Mein Vorstrafenregister würde dann sicherlich ein schlechtes Bild auf mich werfen. Da aber am darauffolgenden Tag, also dem Dienstag, die Wohnungsübergabe war, beschloss ich die Matratze am Dienstag morgen raus zu stellen und nach der Wohnungsübergabe zur Arbeit zu fahren. Die Matratze wäre somit nur für zwei bis drei Stunden draußen bis die Spedition ankommen würde. Auf der Arbeit angekommen bekam ich von meinem Nachbar mit, dass die Matratze geklaut wurde. Die Spedition teilte daraufhin mit, dass die Matratze nicht aufzufinden war und da hatten wir den Salat. Da ich ein sehr unwohles Gefühl dabei hatte ging ich abends nach der Arbeit noch zur alten Wohnung, wollte von meinem Nachbar wissen wer es denn geklaut hätte und bekam als Antwort: „Der Vermieter des Appartements XYZ, frag mich net wie der heisst.“ Also klingelte ich in dem besagten Appartement, entschuldigte mich für die Störung, erkannte sofort, dass ein nicht-deutsch-sprachiger Mieter dort wohnte und versuchte mit Mimiken die Sprachbarriere zu überbrücken und bekam schlussendlich die Nummer des Vermieters. Ich rief diesen an, er kam mir mit der Tour ihm hätte jemand die Matratze verkauft usw. und ich verlangte nur ganz gelassen von ihm, dass er die Matratze zurückbringen möge. Keine dreiviertel-Stunde später stand er mit der Matratze vor der Tür. Diesmal lagerte ich die Matratze bei meinem Nachbarn und vereinbarte mit der Spedition eine Abholung am Freitag. Denn am Freitag hatte ich endlich meinen lang ersehnten Urlaub und würde nachmittags mit meiner Freundin nach Ägypten fliegen. Als ich dann Dienstag Abend in meine neu Wohnung betrat machte ich meiner Freundin erstmal weis, dass ich kurz vor einem Burnout stand und in letzter Zeit zu viel Stress hatte.
Der nächste Arbeitstag war auch etwas anstrengend, doch wir wollten uns mit meiner Freundin zu Feierabend ein Eis gönnen. Ich traf daheim an, zog mich kurz um, sie machte sich frisch und wir gingen vor die Tür. „Schatz ich nehme meine Schlüssel nicht mit, hast Du deine dabei?“ fragte sie mich, ich bejahte.
Nach einigen schönen Stunden kam dann das böse Erwachen als wir vor unserer Haustür standen und mein Schlüssel die Tür einfach nicht öffnete. „Schatz ich glaube ich habe den Schlüssel von innen stecken lassen.“ Total genervt von ihrer Tollpatschigkeit versuchten wir mit einer Kreditkarte die Tür zu öffnen, erfolgslos. Ich rief einen Schlüsseldienst der uns dann verklickern wollte, dass wir mehr als 400 EUR für das Öffnen der Tür zahlen müssen oder bei einem „Storno“ eine Gebühr von 90 EUR anfällt. Als er uns dann für eine zwei-sekündige Arbeit die er an der Tür verrichtete um 430 EUR leichter machte begaben wir uns in unser Gemüht und versuchten den Verlust des Geldes zu verarbeiten, unser Urlaubsgeld war dahin. Wir hatten Glück, dass der Urlaub bevor stand, der ganze Stress den wir in letzter Zeit hatten sollte damit kompensiert werden. Der Freitag brach an, wir hatten unsere Koffer gepackt fuhren noch schnell zur alten Wohnung, trugen die Matratze von meinem Nachbarn vor die Haustür und warteten auf die Spedition. Nach einem Anruf bei diesen erfuhren wir, dass es kein Abholauftrag gab und der Stress mit Eve stand schon wieder bevor. Ein paar Telefonate später klärte sich das Ganze und die Spedition würde die Matratze in den nächsten drei Stunden abholen. Als wir uns in der Bahn Richtung München befanden kam auch der erlösende Anruf der Spedition, dass sie die Matratze abgeholt hätten.
Glücklich, an der einen Hand den Koffer, an der anderen die Hand meiner Geliebten, schlenderten wir durch den Flughafen Richtung Check-IN. Warteten die lange Schlange ab und begaben uns zur türkischen Dame am Schalter. Meine Freundin legte ihren deutschen Ausweis und ich meinen türkischen vor. „Sie haben kein Visum?“ fragte sie mich ganz gelassen. „Ähm ja, aber wir haben gelesen, dass man das Visum in Ägypten am Flughafen direkt bekommt.“ Sie verzog keine Mimik, so gelassen wie sie war sah dies nach keinem Problem aus. „Nein. Sie brauchen vorab ein Visum. Ich bin selber Türkin, ich weiss, dass Türken vorab ein Visum brauchen, aber ich will da sowieso nicht hin.“ Immer noch war sie gelassen, ich dachte ich komme dennoch in den Flieger, bis zu dem Augenblick als sie sagte: „Für Sie endet die Reise hier.“ Sie wandte sich meiner Freundin zu und fragte sie ganz frech, ob sie denn alleine fliegen wolle. Wir beide waren am Boden zerschmettert. Einerseits sauer, dass wir das auf die leichte Schulter genommen hatten, andererseits negativ überrascht, dass dies ein Problem darstellt. Schnell begangen wir im unsere Recherchen im Internet. Alles war so wischi-waschi und nicht eindeutig. Anrufe bei den Konsulaten waren zwecklos, alle hatten schon geschlossen. Unser Reiseveranstalter gab uns die Schuld. Doch wir riefen in Ägpyten am Flughafen an, in der wir das Visum bekommen wollten. Diese versicherten uns, dass ich das Visum bekommen würde, wenn ich ankäme. Auch das Hotel in das wir einchecken wollten sagte, dass wir das Visum am Flughafen bekommen, auch wenn ich türkischer Staatsbürger wäre, da ich einen deutschen Aufenthaltstitel hätte. Die im Check-IN wollten davon aber nichts wissen. Völlig enttäuscht begaben wir uns zum Reisezentrum der Deutschen Bahn um wenigstens das Rückfahrt-Ticket welches auf nächste Woche datiert war umzubuchen, damit wir nach Hause konnten. Die Deutsche Bahn wollte allerdings eine schriftliche Bestätigung der Airline, dass sie uns zwecks Visum nicht an Board gelassen hatten, sonst würden sie nicht umbuchen. Als wir nach ewiger Suche die Zuständigen fanden, verklickerten die uns, dass sie nichts Schriftliches ausstellen würden. Eine erneute Bitte bei der Deutschen Bahn stieß auch auf taube Ohren. Während ich dann nach günstigen Rückfahrmöglichkeiten suchte begab sich meine Freundin an den Informationsschalter und erfuhr von einem dort arbeitenden Türken, dass er bisher immer türkische Staatsbürger nach Ägypten gelassen hätte, auch ohne Visum, da sie es dort vor Ort bekommen würden. Auch, dass es nicht verstünde, warum wir nicht an Board gelassen wurden. Als wir dann gerade noch so unseren letzten Bus nach Hause erwischten und nach mehreren Stunden Fahrt nachts daheim ankamen, legten wir uns erschöpft hin und versuchten unser Pech zu verarbeiten. Heute, am Montag, kam dann die ernüchternde Erkenntnis von den Konsulaten, dass ich vorab ein Visum hätte beantragen müssen. Ob unser Reiseanbieter aus Kulanz einen kleinen Betrag zurückerstatten wird steht noch in den Sternen.
Somit habe ich nun mehrere Urlaubstage die mir zur Verfügung stehen um wieder an meinem Hafttagebuch zu schreiben.
 

cavin

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BeSure

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Kapitel 37 - Anklageschrift

Meine Eltern waren mittlerweile wieder zu Besuch, diesmal endlich mit den Unterlagen für das türkische Konsulat abzugeben. Meine Mutter hatte sich im Laufe der letzten 6 Monate daran gewöhnt, ihre Söhne in der Haft zu sehen. Zu Anfangszeiten weinte sie durchgehend während des Besuchs und nun war „lediglich“ Trauer in ihren Augen zu sehen. Hin und wieder lächelte sie auch. „Emre, wie kannst Du immer noch so humorvoll sein?“, wollte meine Mutter wissen, als ich wieder einen Witz riss. „Ach Mama, ich will zwar auch raus und finde meine Situation gerade nicht so berauschend. Aber es ist alles halb so wild, ich bin in einer JVA in Deutschland, hier geht alles noch human zur Sache.“ Mein Vater sah meine Mutter vorwurfsvoll an, er fand es wohl nicht so lustig, dass meine Mutter lachen musste und ich wieder mal alles auf die leichte Schulter nahm: „Die ganzen Leute wissen jetzt Bescheid über Cem und dich. Deine Mutter konnte nicht den Mund halten und hat sich bei deiner Tante ausgeheult. Die Tratschtante hat die Neuigkeit in kürzester Zeit an mehr Türken herangebracht, als es irgendein Nachrichtensender in derselben Zeit hätte schaffen können.“ Einerseits war ich froh darüber, dass nun ein Großteil unserer Bekannten wusste, wo ich war, denn nun könnten mir meine türkischen Freunde schreiben. Sie wussten sicherlich nicht, wo ich das letzte halbe Jahr war. Doch andererseits konnte ich erahnen, wie Türken tickten, sie würden alle über meinen Bruder und mich lästern. Ich blieb trotzdem gespannt, ob bald Briefe von Freunden ankommen würden.

Nach dem Besuch ging ich wieder meiner täglichen Arbeit nach. Kurz vor der Freizeit, als sich alle noch in ihren Zellen befanden, rief mich der Beamte zu sich ins Büro.

Ein riesiger A4-Umschlag lag auf dem Tisch, als Absender die Staatsanwaltschaft Stuttgart, mein Herz pochte. Ich riss dem Beamten den Umschlag aus der Hand und lief im Eiltempo zu meiner Zelle, bevor mich einer der beiden Reiniger auf den Brief ansprechen konnte. Ganz langsam entnahm ich die zusammen getackerten Blätter aus dem Umschlag und versuchte mich zu beruhigen, als ich in fettgedruckter Schrift das Wort „Anklageschrift“ las.

STAATSANWALTSCHAFT STUTTGART



Stuttgart, den 20.11.2013

An das Landgericht
Jugendkammer

Eilt sehr!

Haft hinsichtlich der Angeschuldigten
Emre Ates und C. A.
OLG Haftprüfungstermin (9-Monats-Haftprüfung)
gern. §§ 121,122 StPO
15.01.2014 für beide

Die Ermittlungen sind abgeschlossen.

Anlagen:

12 LO Hauptakten
38 LO Fallakten
3 LO Unterlagen StA
2 Haftakten
1 LO „EV Sissi- Beschuldigte Emre Ates und C. A.“
1 LO „EV Sissi -Beschuldigter unbekannt alias Enrico Monte“
1 LO „EV Sissi-Beschuldigter unbekannt alias Christopher Blake“
1 LO „EV Sissi- Geschädigter P. M.“
1 LO „A. P.“
3 Asservatenhefte (Kopie)
2 CD-R gescannte Akten
Anklageschrift
Der am 01.12.1991 in Niedernhall geborene,
bis zur Inhaftierung in 73728 Esslingen a.N. wohnhafte,

-in vorliegender Sache nach vorläufiger Festnahme am 05.04.2013 seit 05.04.2013 aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Esslingen vom 05.04.2013 in Untersuchungshaft, seit 17.09.2013 auch aufgrund der Erweiterung des Haftbefehls des Amtsgerichts Ess*lingen vom 12.09.2013,

-derzeit in der JVA Schwäbisch Hall-

ledige Student
Emre Ates
-Staatsangehörigkeit: deutsch und türkisch

Verteidiger: Rechtsanwalt G. M.

und

der am 14.02.19?? in Niedernhall geborene,
bis zur Inhaftierung in der 70178 Stuttgart wohnhafte,

-in vorliegender Sache nach vorläufiger Festnahme am 05.04.2013 seit 05.04.2013 in Untersuchungshaft aufgrund Haftbefehls des Amtsge*richts Esslingen vom 05.04.2013, seit 17.09.2013 auch aufgrund der Erweiterung des Haftbe*fehls des Amtsgerichts Esslingen vom 12.09.2013,

– zurzeit in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-

ledige Schüler
-Heranwachsende
C. A.
Staatsangehörigkeit: deutsch und türkisch

Verteidiger:

Rechtsanwalt Dr. C. S.
(Pflichtverteidigerbestellung vom 05.04.2013)

und

der am 08.08.19?? in Niedernhall geborene
in 70187 Stuttgart wohnhafte
ledige
-Heranwachsende
A. P.

Verteidiger: Dr. E. B.

werden angeschuldigt,

es haben

der Angeschuldigte Emre Ates

bis 822.,
der Angeschuldigte C. A.

259. bis 822.,

hiervon in den Fällen 259. bis 508. als Jugendlicher
und in den Fällen 509. bis 822. als Heranwachsender

und

der Angeschuldigte A. P.

bis 402.
als Heranwachsender

jeweils tatmehrheitlich gemeinschaftlich und gewerbsmäßig
in den Fällen 259. bis 402. gemeinschaftlich, gewerbs- und bandenmä*ßig

in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, dass sie das Ergebnis eines Datenverarbeitungsvorgangs durch unbefugte Verwendung von Daten beeinflusst haben

weswegen folgende Gegenstände einzuziehen sind:

der Joy-PC (Tastatur-PC) mit Maus und 2 Netzkabeln, sichergestellt bei Emre Ates
Laptop Sony Vaio, sichergestellt bei C. A.
Laptop Netbook, sichergestellt bei A. P.
Laptop IBM Thinkpad Fx 69239 03/10 mit Zubehör (Median Mouse und Netz*teil), sichergestellt bei Emre Ates
PC Tower Median 4445 01 0220735 (15) und Zubehör (Tastatur), sichergestellt bei Emre Ates
Die Staatsanwaltschaft legt den Angeschuldigten folgenden Sachverhalt zur Last:

Im Zeitraum vom 27.07.2012 bis zum 04.04.2013 erwarb der Angeschuldigte Emre Ates aufgrund eines gemeinsamen Tatplans in der Zeit vom 27.07.2012 bis min*destens zum 09.11.2012- somit in 402 Fällen- gemeinschaftlich mit den Angeschul*digten P. und seit dem 09.10.2012 bis zum 04.04.2013- somit in 564 Fällen – gemeinschaftlich mit dem Angeschuldigten C. A. nach dem nachfol*genden modus operandi in insgesamt 822 Fällen betrügerisch Bahnfahrkarten bei der Deutschen Bahn AG.

Modus Operandi:
Die Angeschuldigten boten über das Internetforum www.mitfahrgelegenheit.de der ,,mitfahrgelegenheit.de carpooling.com GmbH“, Nymphenburger Str. 86, 80636 Mün*chen Bahntickets der Deutschen Bahn AG zum Verkauf an. Die Angebote bezogen sich auf jeweils längere Fahrtstrecken. Die Online-Tickets wurden in der Regel zum Preis von 40,- € pro Person und Strecke angeboten, während der tatsächliche Kauf* preis für die Fahrkarten normalerweise bei deutlich über 100,- € lag. Für die Kontaktaufnahme mit dem Käufer gaben sie jeweils bei Internetserviceprovidern angelegte E-Mail-Adressen, die erfundene Namensbestandteile wie etwa thomasschniek@yahoo.de, danielmaurer877@hotmail.de, haroldkäfer@gmail.com und viele mehr enthielten, an. Meldete sich ein Kaufinteressent, so wurde dieser ge*beten, alle zur Online-Ticketbestellung notwendigen Daten, unter anderem die letz*ten 4 Ziffern der Personalausweisnummer, anzugeben. Der Reisende konnte sich dann im Zug bei der Fahrkartenkontrolle nur mit seinem Personalausweis als berech*tigter Inhaber des Onlinetickets ausweisen. Die Kreditkarte, mit der das Ticket be*zahlt wurde, musste er nicht vorlegen.
Wenn die Daten vorlagen, bestellten die Angeschuldigten über das Internetportal der Deutschen Bahn AG unter Verwendung derselben E-Mail-Adresse, die sie bei wwww.mitfahrgelegenheit.de angegeben hatten, das entsprechende Ticket bei der Deutschen Bahn AG. In die Buchungsmaske gaben sie dabei frei erfundene Adres*sen ein, um eine spätere Identifizierung zu erschweren. Sie verwendeten zur Bezah*lung des Tickets widerrechtlich die Kreditkartendaten fremder Personen. Diese Kre*ditkartendaten hatten sie zuvor über „schwarze“ Internetforen wie cardars.cc erlangt, über die in großer Zahl ausgespähte Datensätze gehandelt werden. Die An*geschuldigten verwendeten insgesamt 166 verschiedene Kreditkartendatensätze. Die Angeschuldigten handelten in dem Wissen und Wollen, dass über die Webseite der Deutschen Bahn AG nach der Eingabe aller Daten automatisiert das Online* Ticket versendet würde und ab diesem Zeitpunkt auch einsatzbereit wäre, ohne dass die Deutsche Bahn AG hierfür die entsprechende Zahlung erhalten würde, da diese zurückgebucht wird oder nur deshalb eine Rückbuchung nicht erfolgt, weil der betrof*fene Inhaber des Kreditkartenkontos die unrechtmäßige Abbuchung nicht bemerkt.
Die Käufer der Tickets wurden angewiesen, den Kaufpreis auf verschiedene Giro*konten, überwiegend die zwei Konten Kontonummer 1111111111, BLZ 11111111 bei der Z. Bank International AG, und auf das Kontonummer 222222222, BLZ 22222222 bei der Postbank AG zu überweisen. Die beiden Konten wurden von Dritten unter Vorlage gefälschter Personaldokumen*te allein zum Zweck der Vereinnahmung widerrechtlicher Gewinne eröffnet.
Teilweise wurden aber auch andere Girokonten wie das Konto der Volksbank, BLZ 33333333, Konto-Nr. 33333333, und Zahlungs*wege benutzt.
Die Angeschuldigten handelten in der Absicht, durch die Fahrkartenbestellungen die Online-Tickets zu erhalten. Für diese hatten sie bereits vorab „Käufer“ gefunden und leiteten diese anschließend zur Erfüllung dieses Verkaufs der Fahrkarten an die Rei*senden weiter. Hierfür konnten sie allerdings nur einen Bruchteil des tatsächlichen Werts der Online-Tickets als Kaufpreis gegenüber den Reisenden verlangen, um das vorgeschobene Motiv des Fahrkartenverkaufs, man habe etwa noch überzählige Ti*ckets aus Firmenrabatten, plausibel erscheinen zu lassen.
Die Angeschuldigten Emre Ates, C. A. und A. P. handelten, um sich aus dem Ankauf der Bahntickets und den Einnahmen aus den Kaufpreiszah*lungen der Reisenden eine fortlaufende Einnahmequelle von einigem Umfang und einiger Dauer zur Finanzierung ihres Lebensunterhaltes zu verschaffen.

Die Angeschuldigten Brüder Emre Ates und C. A. überredeten et*wa im Frühling oder Sommer 2012 den Angeschuldigten P., sich an ihrem „Ne*benjob“ zu beteiligen. Emre Ates installierte spätestens Mitte 2012 die notwen*digen Programme auf dem Laptop des P.. Nachdem der Angeschuldigte C. A., der im Sommer 2012 länger in der Türkei gewesen war, Mitte September 2012 nach Stuttgart zurückgekehrt war, schlossen sich die drei Angeschuldigten mindestens für den Zeitraum Anfang Oktober 2012 bis zum 09.11.2012 zusammen, um nach dem genannten System arbeitsteilig und über einen längeren Zeitraum hin* weg betrügerisch eine Vielzahl von Bahnfahrkarten zu erwerben. Hierbei nahm jeder der Angeschuldigten die drei zentralen Aufgaben der Einstellung der Fahrkarten bei der www.mitfahrgelegenheit.de, die Kommunikation mit den Reisenden und die Be*stellungen der Fahrkarten wahr. Außerdem waren alle an der Kommunikation mit den Personen aus den „schwarzen Foren“ beteiligt, die ihnen Kreditkartendaten und Bankkonten verschafften. Hierzu hatte jeder Angeschuldigte mindestens eine eigene ICQ-Kennung, wobei die Brüder auch teilweise unter den Kennungen des jeweils anderen schrieben und auch P. teilweise eine Kennung des Emre Ates verwendete.
Die Geldabhebungen von dem Konto der Ziraat Bank zur Erlangung der Gewinne erfolgten in Anwesenheit aller drei Angeschuldigter. Im November 2012 entschieden sich die Brüder Ates nunmehr ohne A. P. den betrügerischen Erwerb von Bahnfahrkarten fortzusetzen und teilten diesem wahrheitswidrig mit, die EC-Karte für das Konto der Ziraat Bank sei eingezogen worden.

Auch außerhalb des Zeitraums von Anfang Oktober 2012 bis zum 09.11.2012 nah*men die jeweils zwei Angeschuldigten, also Emre Ates und A. P. bzw. Emre Ates und C. A. aufgrund ihres gemeinsamen Tatplans in wechselnder Beteiligung sowohl die Einstellungen bei der Mitfahrzentrale, die Kom*munikation mit den Reisenden, die Bestellungen der Fahrkarten und die Kommunika*tion mit den Personen aus den „Schwarzen Foren“ vor.

Bis zum Auszug des Emre Ates aus der elterlichen Wohnung in Stuttgart, ca. Ende September/ Anfang Oktober 2012 handelten die Ange*schuldigten Brüder Ates und P. überwiegend von den Wohnungen in Stuttgart (elterliche Woh*nung des P.) aus. Nach dem Auszug des Emre Ates dürften die Taten überwiegend von dessen Wohnung in Esslingen aus stattgefunden haben.

Bis zum 09.11.2012 entstand ein Schaden zum Nachteil der Deutschen Bahn AG in Höhe von 60.470 € (Taten Nr. 1 bis 402/Tatbeteiligung P.). Von Oktober 2012 bis zum 09.11.2012 entstand ein Schaden in Höhe von 41.003 € (Taten Nr. 259 bis 402/Tatbeteiligung aller Angeschuldigten). Von Oktober 2012 bis zum 04.04.2013 entstand ein Schaden in Höhe von 88.749,00 € (Taten Nr. 259 bis 822/Tatbeteiligung C. A.).

Bei einer Gesamtbetrachtung dieser sich teilweise überlappenden Schadenssummen ergibt sich ein Gesamtschaden zum Nachteil der Deutschen Bahn AG in Höhe von 129.192,20 €.

Der vereinnahmte Gewinn lag hinsichtlich des Kontos der Volksbank Kiel bei 1.835,00 €, hinsichtlich des Kontos der Ziraat Bank bei 20.617,30 € und hinsichtlich der Postbank Hamburg bei 13.765,00 €. Der Gesamtgewinn dürfte höher als bei 36.217 € liegen, da insbesondere im Februar 2013 zahlreiche Buchungen von Bahntickets vorgenommen wurden, bei denen nicht geklärt ist, wie die Reisenden den „Kaufpreis“ bezahlten.
Im Einzelnen handelt es sich um die in der Anlage I zur Anklage konkretisierten Taten Nr. 1-822, die in der Zeit vom 27.07.2012 bis zum 04.04.2013 begangen* siehe Anlage 1.

Die Taten sind:

bei dem Angeschuldigten Emre Ates

679 Vergehen des gemeinschaftlichen, gewerbsmäßigen und 143 Verbrechen des gemeinschaftlichen, gewerbs- und bandenmäßigen Computerbetrugs
gern. § 263a Abs. 1 u. Abs. 2, § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1, Abs. 5 StGB i. V. m. §§ 25 Abs. 2, 53, 74 ff. StGB.

bei dem Angeschuldigten C. A.

421 Vergehen des gemeinschaftlichen, gewerbsmäßigen und143 Verbrechen des gemeinschaftlichen gewerbs- und bandenmäßigen Computerbetrugs
gern. § 263a Abs. 1 u. Abs. 2, § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1, Abs. 5 StGB i. V. m. §§ 25 Abs. 2, 53, 74 ff. StGB;
in den Fällen 259 bis 508 in Verbindung mit§§ 1,3 JGG
in den Fällen 509 bis 822 in Verbindung mit§§ 1, 105 JGG

bei dem Angeschuldigten A. P.

259 Vergehen des gemeinschaftlichen, gewerbsmäßigen und 143 Verbrechen des gemeinschaftlichen gewerbs- und bandenmäßigen Computerbetrugs

gern. § 263a Abs. 1 u. Abs. 2, § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1, Abs. 5 StGB i. V. m. §§ 25 Abs. 2, 53, 74 ff. StGB

insgesamt in Verbindung mit§§ 1, 105 JGG

Beweismittel:

1.

Einlassung des Angeschuldigten Emre Ates, Hauptakte 1, 120 ff.
Einlassung des Angeschuldigten C. A., Hauptakte 1, 142
Einlassung des Angeschuldigten A. P., Hauptakte 1, 152 ff.
2. Zeugen:

PHM G., zu laden über die Bundespolizeiinspektion München, 80335 München
POK B., zu laden über die Bundespolizeiinspektion München, 80335 München
PHM K., zu laden über das Bundespolizeipräsidium, Referat 55, 83024 Rosenheim
3. Urkunden:

Auskünfte aus dem Bundeszentralregister
Ausdrucke ICQ-Chatprotokolle, gesichert auf dem Joy-PC des Emre Ates, Hauptakte 7
Ausdrucke ICQ-Chatprotokolle, gesichert auf dem Laptop Sony des C. A., Hauptakte 8
Ausdrucke ICQ-Chatprotokolle, gesichert auf dem Laptop IBM, Haupt*akte 9
Ausdrucke ICQ-Chatprotokolle, gesichert auf dem PC Median, Hauptakte 10
IT-Untersuchungsbericht Laptop Sony, Hauptakte 12
IT-Untersuchungsbericht Joy-PC, Unterlagen StA Teil 3, 220 ff.
Kontoauszüge der Ziraat Bank, BI. 47
Kontoauszüge der Postbank AG, BI. 3 ff./EV Sissi- Be*schuldigte Emre Ates und C. A., 113 ff.
Kontounterlagen Emre Ates, ,,privates Konto“, Hauptakte 5, 13 ff.
Kontounterlagen C. A., ,,privates Konto“, Hauptakte 5, BI. 79
Auswerteprotokolle Mobilfunktelefone/Surf-Surfstick, Hauptakte 2, BI. 110
Lichtbildmappe Volksbank Esslingen eG, Geldautomat in Zell, 01.13, LO „EV Sissi-Beschuldigter unbekannt alias Christopher Blake“, BI. 165 ff./ CD BI. 145
Lichtbildmappe Kreissparkasse Esslingen-Nürtingen, Geldautomat in Zell, 01.13, , LO „EV Sissi-Beschuldigter unbekannt alias Christo* pher Blake“, BI. 137 ff.
Lichtbildmappen Landesbank BW, Geldautomat Küferstr., 73728 Ess* lingen, LO „EV Sissi- Beschuldigte Emre Ates und C. A.“, BI. 225
CD Handyrohdaten Emre Ates und C. A., Hauptakte 2, BI. 106
Wesentliches Ergebnis der Ermittlungen:

1. Zur Person

Angeschuldigter Emre Ates
Der Angeschuldigte Emre Ates wurde am 01.12.1992 in Niedernhall geboren. Er ist ledig und hat die deutsche und die türkische Staatsangehörigkeit. Er studiert im 3. Semester Informatik.

Angeschuldigter C. A.
Der Angeschuldigte C. A. wurde am 14.02.19?? in Niedernhall gebo*ren. Er ist lediger Schüler und hat die deutsche und die türkische Staatsangehörig* keit. Zuletzt besuchte er die Werkrealschule.

Angeschuldigter P.
Der Angeschuldigte P. wurde am 08.08.19?? in Niedernhall geboren. Er ist türki*scher Staatsangehöriger und ledig. Er hat eine Lehre absolviert und einen weiteren Abschluss an der weiterbildenden Fachoberschule absolviert. Er beabsichtigt im Wintersemester 2013/2014 ein Studium zu beginnen.

2. Zur Sache:

Ursprung des Verfahrens:
Ausgangspunkt des Verfahrens war zunächst eine Anzeige der Selina Müller am 17.01.2013 bei der Bundespolizei München. Diese hatte bei www.mitfahrgelegenheit.de ein Bahnticket erworben, welches ihr unter dem Alias* namen Max Fischer zugesandt wurde. Den Kaufpreis in Höhe von 40,- € überwies sie auf das Konto der Ziraat Bank, Konto-Nr.: 1111111111, BLZ: 22222222. Anhand des zugesandten Online-Tickets stellte sie fest, dass der tatsächliche Wert der Bahn* fahrkarte bei 142,- € lag. Dies erschien ihr nicht plausibel zu sein. Parallel erstattete am 19.01.2013 der Kreditkarteninhaber Thomas Hedergott bei der Bundespolizeiinspektion Erfurt Anzeige wegen des missbräuchlichen Gebrauchs seiner Kreditkarte. Hierbei wurden insgesamt 18 widerrechtliche Abbuchungen zu Gunsten der Deutschen Bahn AG festgestellt. Zunächst wurde versucht, die Nutzer der Bahntickets anhand der Ticketnummern zu identifizieren und zu vernehmen. Die Zeugen, die er*mittelt werden konnten, gaben an, die Tickets von einer Person Namens Max Fischer über das lnterforum der Mitfahrgelegenheit.de erworben zu haben und den Kaufpreis auf das Konto der Ziraat Bank überwiesen zu haben. Angeblicher Kontoinhaber des Kontos bei der Ziraat Bank war eine Person Namens Christopher Blake. Bei der Kon*toeröffnung wurde ein gefälschtes niederländisches Ausweisdokument vorgelegt. Das Konto bei der Ziraat Bank wurde dann Ende Januar 2013 durch die Staatsan*waltschaft Hamburg geschlossen. Es wurde noch festgestellt, dass acht Bargeldab*hebungen zwischen dem 04.12.2012 und dem 22.01.2013 vom Konto der Ziraat Bank im Raum Tübingen stattfanden. (Kontounterlagen, Ziraat Bank, , LO „EV Sissi* Beschuldigter unbekannt alias Christopher Blake“, BI. 45 ff.). Weitere Abhebungen im Dezember 2012 und im Januar 2013 wurden im Raum Esslingen vorgenommen.

Nach der Schließung des Ziraat Bank Kontos wurden über www.mitfahrgelegenheit.de Einstellungen von Fahrkarten gesucht, die Parallelen zu den verwendeten Daten für Max Fischer aufwiesen. Hierbei konnte festgestellt wer* den, dass ein Angebot unter dem Namen Felix Geissler die gleichen Bestandsdaten enthielt. Über die Ermittlungen bei der Deutschen Bahn AG wurden Fahrkartenkäufe abgefragt, die unter dem Namen Felix Geissler stattgefunden hatten. Hierdurch wur*de man schließlich auf das Konto bei der Postbank Hamburg, Konto-Nr.: 111111111, BLZ: 22222222, eröffnet auf den Namen Enrico Monti, geb. 10.10.1990 in Rom, Zeughausmarkt 19, 20459 Hamburg, aufmerksam. Für Geldabhebungen von diesem Konto am 20.03., 26.03. und 31.03.2013 konnten Videoaufzeichnungen gesichert werden, bei denen jeweils eine Person mit einem Motorradhelm maskiert war (,,EV Sissi- Beschuldigte Emre Ates und C. A.“, BI. 225 ff.). Auch bei zwei Geldabhebungen am 09.01.2013 gegen 17:59 Uhr und am 14.01.2013 gegen 22:06 Uhr wurde bei der Volksbank Esslingen bzw. bei der Kreissparkasse Esslin*gen-Nürtingen in den Videoaufzeichnungen eine Person mit Motorradhelm festge*stellt. Auf Grund der vorangegangenen Geldabhebungen wurden zwei Geldautoma*ten der Volksbank Esslingen und der Landesbank Baden-Württemberg am 03.04.2013 und am 04.04.2013 von 19:00 Uhr bis 24:00 Uhr überwacht. Am 04.04.2013 wurden Emre Ates und C. A. von der Bundespolizei München schließlich dabei beobachtet, wie sie von einem Geldausgabeautomaten der Baden-Württembergische Bank an der Filiale in der Kieferstr. 35, 73730 Esslin*gen am Neckar gemeinsam Geld abhoben und zwar von dem o.g. Postbankkonto, Konto-Nr.: 111111111, BLZ: 22222222.

Emre und C. A. wurden am 05.04.2013 vorläufig festgenommen. Am gleichen Tag fanden bei beiden Angeschuldigten in Esslingen und Stuttgart Woh*nungsdurchsuchungen statt.

Sichergestellte Datenträger:
Neben verschiedenen Mobilfunktelefonen wurden 4 Computer sichergestellt, die re*levante Daten enthielten.

Bei der Durchsuchung durch die Bundespolizei München am 05.04.2013 wurde in der Wohnung des Emre Ates in Esslingen eine Joy-PC (Tastatur-PC) sicherge*stellt. Bei C. A., der bei seinen Eltern in Stuttgart wohnhaft war, wur*de ein Sony Laptop sichergestellt. Beide PCs waren mit der Software TrueCrypt ver*schlüsselt Die beiden über 30-stelligen Passwörter der Brüder, die diese später preisgaben, unterscheiden sich lediglich in den zusätzlichen 2 Stellen bei Emre Ates, die „18″ lauten.

In dem parallel gelagerten Verfahren wurde bei der Wohungsdurchsuchung der elterlichen Wohnung, in der zu diesem Zeitpunkt noch beide Brüder wohnhaft waren, am 22.08.2012, zwei PCs sichergestellt, die gleich*falls verschlüsselt waren. Sie konnten mit denselben Passwörtern geöffnet werden. Es handelt sich um einen Laptop IBM, auf dem Chatverläufe vom 10.02.2012 bis 06.03.2012 gesichert werden konnten und einen PC Medion, auf dem Chatverläufe vom 13.07.2012 bis zum 20.08.2012 gesichert wurden.

Zurechnungen der Bahnticketbuchungen:
Die von der Bundespolizei München erstellte Gesamtliste der missbräuchlichen Ti*cketbuchungen beruht auf den Daten der Deutschen Bahn AG über betrügerisch er*worbene Bahntickets, die diese an das Bundespolizeipräsidium Potsdam, ,,Soko Combet“ weitergegeben hat. Dort werden die Daten zentral in das polizeiliche Da*tenbanksystem „b-case“ eingegeben, das die Suche nach bestimmten Kriterien wie verwendeter E-Mail-Adresse, Kreditkartennummer oder mitgeloggter IP-Adresse er*möglicht.

Die Zurechnung der Bahnticketbuchungen zu den Angeschuldigten erfolgte einer*seits anhand der Auswertung der beiden Girokonten bei der Ziraatbank und bei der Postbank AG, auf die die Reisenden den „Kaufpreis“ überwiesen haben. Anhand der im Verwendungszweck der Überweisungen angegebenen Daten, wie der 6-stelligen Ticketnummer und des Namens konnten die Ticketbuchungen identifiziert werden.
Die Bahnticketbuchungen, die den Überweisungen auf diese Konten zugrunde lagen, sind den Angeschuldigten einerseits aufgrund der parallelen Abhebesituationen, ins*besondere auch wegen der Verwendung des Motoradhelms zuzurechnen. Weiter ergibt sich aus einem Vergleich der in der Buchungsmaske angegebenen E* Mail-Adressen bzw. deren Hauptnamensbestandteilen, dass Varianten der Namen „Frank Meyer“ und „Felix Geissler“ sowohl für Ticketbuchungen, deren Gewinn auf das Konto der Postbank Hamburg gingen, verwendet wurden als auch für solche, deren Gewinne auf das Konto der Ziraat Bank gingen. Für den Namen „Frank Meyer“ gilt das etwa in den Fällen 648 – 651, 655 – 663, 665 und 668 bis 677 für das Post*bankkonto und in den Fällen 353 – 434 für das Ziraat Bank Konto. Für „Felix Geissler“ gilt dies etwa in den Fällen 555 – 647 für das Postbankkonto und in den Fällen 435 – 469 für das Ziraat Bank Konto.

Ein Abgleich der bei den Ticketbuchungen seitens der Deutschen Bahn AG mitgeteil*ten IP-Adressen ergibt außerdem, dass der Stamm der IP-Adresse „89.204.“ bei Bu*chungen bzgl. beider Konten auftaucht, was auf die Nutzung eines Surf-Sticks zurückzuführen ist. Die weiteren Buchungen können über identische Elemente, wie mitgeloggte IP-Adressen, verwendete E-Mail-Adressen und verwendete angebliche Anschriften in der Buchungsmaske zugeordnet werden, beispielsweise auch durch markante Kombinationen der Straße mit einer falschen oder nicht existenten Post*leitzahl etwa Baumweg 3, 34343 Berlin oder Kreuzgasse 8, 87347 München und die verwendeten Kreditkartennummern.

a) Tatbeteiligung des Emre Ates:

Am 03. und 04.06.2013 machte der Angeschuldigte Emre Ates umfassende ge*ständige Angaben zu allen ihm hier vorgeworfenen Taten, die sich nach der Auswer*tung der Beweismittel und insbesondere der verwendeten PC’s hinsichtlich seinen ei*genen Tatbeitrags bestätigt haben.

Weiter wird der Angeschuldigte Emre Ates belastet durch die Angaben des An*geschuldigten A. P., bei dem am 06.08.2013 eine Hausdurchsuchung statt* fand und der anschließend umfangreiche Angaben gemacht hat.

Der Verbleib des Großteils des Gewinns ist ungeklärt. Soweit der Angeschuldigte Emre Ates angegeben hat, er habe die Gewinne aus den Straftaten aufgrund seiner Spielsucht ausgegeben, wurde dies durch die Ermittlungen bislang nicht bestätigen.

Aus einem auf dem PC Medion gesicherten ICQ-Chatverlauf (Stehordner Hauptakte 10, BI. 23 ff. -der PC wurde sichergestellt durch die Bundespolizei Kassel am 22.08.2012 bei einer Hausdurchsuchung bei der Familie Ates in Stuttgart), ergibt sich, dass er von 18.000,- € Gewinn aus einer früheren Tatphasen nur 2.000,- € verzockt hat und außerdem den Gewinn mit seinem Bruder geteilt hat. Aus dem Zwischenbe*richt III der Bundespolizei Köln (LO Unterlagen StA 3, BI. 136), die ebenfalls gegen Emre und C. A. wegen einer dritten Tatphase ermittelt geht jedoch hervor, dass über die E-Mail-Adresse ha*rold.käfer@yahoo.de, die auch regelmäßig für die Bahnticketbestellungen benutzt wurde, über 7.000,- € über den E-Währungstauscher Dagensia in Prag an ein Konto des inzwischen vom FBI im Mai 2013 abgeschalteten Internetbezahlsystems Liberty* Reserve S.A. überwiesen wurde. Es ist davon auszugehen, dass die Überweisung von Geldern auf ein Liberty-Reserve Konto nur eine Methode war, die Gewinne nachhaltig zu sichern und dass die Gewinne aus dem hiesigen Verfahren gleichfalls über anonyme Internetbezahlsysteme weitergeleitet wurden und mindestens teilwei*se noch verfügbar sind. Insgesamt dürfte der Verbrauch der Gewinne für die Spiel*sucht als eher gering einzuschätzen sein. Auf dem bei der Durchsuchung am 05.04.2013 sichergestellten PC haben sich bislang keine Hinweise auf die Kontakte zur Online-Wettanbietern gefunden.

b) Tatbeteiligung des C. A.

Der Angeschuldigte C. A. wurde am 25.06.2013 von der Bundespolizei München ausführlich vernommen und gab hierbei auch seine entsprechenden Pass*wörter bekannt. Im Wesentlichen streitet er jedoch eine Beteiligung an den ihm vor*geworfenen Taten ab. Er sei zwar ein paar Mal dabei gewesen, wie sein Bruder Geld abgehoben habe und habe von diesem auch ein kleines Taschengeld erhalten, damit er nicht weiter nachfrage. Er habe lediglich, als er im Sommer 2012 in der Türkei Ur*laub gemacht habe, für „Dark“, den er über ICQ-Chats kannte, Angebote auf der Webseite der Mitfahrgelegenheit eingestellt. An den Ticketbuchungen für diese Einstellungen sei er nicht beteiligt gewesen. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland habe er mit diesen Sachen nichts mehr zu tun gehabt.

Ihm sind die Taten Nr. 259 – 822 im Rahmen einer mittäterschaftlichen Begehungs*weise jedoch aufgrund folgender Umstände zuzurechnen:

Hinsichtlich des Laptops des C. A., der bei der Durchsuchung am 05.04.2013 sichergestellt wurde, gibt Emre Ates in seiner Vernehmung am 04.06.2013 an, er kenne das Passwort nicht. C. A. gibt in seiner Ver*nehmung am 25.06.2013 dagegen zunächst an, ihm sei für die Verschlüsselung sei*nes PC’s kein eigenes Passwort eingefallen, daher habe er das „ähnliche Passwort“ gefunden, d.h. das ähnliche Passwort zu dem seines Bruders. Erst im weiteren Ver*lauf der Vernehmung gibt er an, sein Bruder habe den Laptop verschlüsselt und die*ser habe mit ihm gearbeitet. Diese Aussagen widersprechen sich insbesondere unter dem Gesichtspunkt, dass Emre Ates ersichtlich seinen Bruder entlasten wollte. Insgesamt ist anzunehmen, dass die Passwörter deshalb fast identisch waren, damit beide die jeweiligen PC’s nutzen und die Ticketbuchungen durchführen konnten. Im Wesentlichen dürfte jeder Bruder seinen eigenen PC benutzt haben. Auch für die E*Mail-Adressen ????????@gmail.com und ?????@gmail.com wurde dassel*be Passwort verwendet.

Da die Eltern der Ates wussten, dass die Brüder ihre Computer zur Begehung von Straftaten nutzten, dürfte auch keine Notwendigkeit dafür bestanden haben, dass Emre Ates nach seinem Auszug bei Besuchen bei seinen Eltern dort Zu*griff auf einen PC hatte. Die Kenntnis der Eltern ergibt sich außer aus dem Umstand, dass die Bundespolizei Kassel am 22.08.2012 eine Durchsuchung in der „Familien*wohnung“, Stuttgart durchgeführt hat, insbesondere aus dem Chatverlauf der ICQ-Kennung 1111 222 mit „Steven Bollywood“ am 18.07.12 (Hauptakte 10, Bl.13). Dort heißt es:

„ich schwöre dir, mein bruder wird nichts von der bd erfahren er ist sowieso 2 monate weg weswegen der auch sauer ist weil der selber nicht fillen kann (…) der petzt mich sogar meinen eitern also der hat mich letztens „gepetzt“ weswegen die bd zerschnit*ten wurde“.

Bereits im Februar 2012 gab es familiäre Probleme, da sich C. A. ein iPad gekauft hatte (Chatverlauf vom 29.02.2012, gesichert auf dem PC IBM, Haupt* akte 9, BI. 9).
In seiner Wohnung in Esslingen verfügte Emre Ates über einen eigenen PC.
Hinsichtlich der Taten 353 – 434 ist festzustellen, dass für den Erwerb der Online* Tickets die E-Mail Adressen f.meyer80@yahoo.de, frank.meyer80@freenet.de, frank.m.80@freenet.de, f.meyer80@freenet.de verwendet wurden, die ausschließlich auf dem Laptop des C. A., nicht jedoch auf dem PC des Emre Ates gesichert wurden (Hauptakte 1, BI. 33, Hauptakte 3, BI. 11). Unter Angabe dieser E* Mail Adressen wurden vom 05.11. bis zum 11.11.2012 ca. 80 Buchungen von Onli*ne-Tickets mit nicht rechtmäßig erlangten Kreditkartendaten durchgeführt.
Unter der E-Mail-Adresse frank.meyer80@freenet.de wurde am 05.11.2012 auch eine E-Mail an den Administrator der Webseite www.mitfahrgelegenheit.de gesendet, mit der Bitte, die eingestellten Inserate nicht immer zu löschen (Hauptakte 12, BI. 16 des IT-Untersuchungsbericht, Laptop Sony).
Vergleicht man die Kontaktlisten für die ICQ-Chats auf dem PC des C. A. und auf dem PC des Emre Ates, so ergeben sich zahlreiche Überein*stimmungen hinsichtlich der Personen, die für die Beschaffung von Konten und Kre*ditkartendaten zentral waren.

Für eine gleichwertige mittäterschaftliche Beteiligung des C. A. spricht ferner deutlich der auf dem iPhone 4 des Emre Ates gesicherte SMS-Verkehr in der Nacht vom 26.01.2013 auf dem 27.01.2013 (Hauptakte 3, BI. 91 f.). Hier diskutieren die Brüder darüber, wem die nächsten zwei Zahlungen zustünden, da nunmehr der Emre Ates „gearbeitet“ habe, obwohl C. A. hätte arbeiten wol*len bzw. sollen. Hiermit in engem zeitlichen Zusammenhang stehen 93 Fahrkarten*einstellungen bei der Mitfahrgelegenheit und 9 Ticketbuchungen, die zwischen dem 26.01.2013, 16:35 Uhr und dem 27.01.2013, 8:06 Uhr (Fälle 509 – 517) durchgeführt wurden.

Außerdem wird nochmals auf den zuvor zitierten ICQ-Chatverlauf verwiesen, bei dem Emre Ates am 15.07.2012 unter der ICQ-Nummer 1111 222 der ICQ* Nummer 111111111, Nickname „Norbert Waller“ gegenüber angibt, bereits im Mai und Juni „18k€“ gemacht zu haben und mit seinem Bruder geteilt zu haben.

Zwar gab es im Sommer 2012 offenbar auch Auseinandersetzungen zwischen den Brüdern, wie sich auch aus dem zitierten Chatverlauf mit „Steven Bollywood“ ergibt und Emre Ates wollte das nächste Bankkonto zum Empfang vor Gewinnen vor C. A. geheim halten. Allerdings sprechen die zahlreichen Indizien da*gegen, dass es ein dauerhaftes Zerwürfnis zwischen den Brüdern gab. Vielmehr ist aufgrund der vorgenannten Indizien und aufgrund der Angaben des A. P. davon auszugehen, dass die Brüder nach ihrer Rückkehr aus der Türkei unverändert zusammengearbeitet haben.

Der Angeschuldigte P. machte bei seiner Vernehmung am 06.08.2013 umfas*sende Angaben zu seiner Tatbeteiligung. Die Richtigkeit dieser Angaben hat sein Verteidiger, nachdem er zunächst Zweifel an der ordnungsgemäßen Belehrung des Angeschuldigten äußerte, später bestätigt (LO „A. P.“, BI. 299). Hierbei gab P. auch an, dass „BXW“ sein ICQ-Nickname sei. In der Stellungnahme des Vertei*digers vom 09.11.2013 hat dieser weitere, teils modifizierende Angaben gemacht.

Der Angeschuldigte P. gab an, beide Brüder hätten ihm von ihrem Nebenjob er*zählt und zunächst hätten ihn beide eingewiesen. Mit Schriftsatz vom 09.11.2013 konkretisierte der Verteidiger den Zeitpunkt der „Einweisung“ auf Mitte Juli 2012. C. A. sei gegen eine Beteiligung des P. gewesen und teilweise hät*ten er und Emre Ates heimlich an dem Ziraat Bankkonto gearbeitet. Später habe Emre gesagt, der C. wisse jedoch von dem Konto und weiter gab der P. auch an, sie seien teilweise alle drei, d.h. C., Emre und er, beim Geldabhe*ben gewesen.

Hinsichtlich des Tatzeitraums hat er das Ende der Zusammenarbeit konkret auf den 09.11.2012 datiert, da er zu diesem Zeitpunkt aufgrund der Beendigung der Zusam*menarbeit seinen Laptop von Emre zurückgefordert habe. Weiter gibt er nun an, er sei im Juli 2012 zusammen mit C. und Emre Ates beim Geldabheben ge*wesen und später dreimal mit Emre Ates.

Dagegen sagte er bei seiner Vernehmung am 06.08.2013 aus, er sei zwei- oder dreimal mit den Brüdern Ates beim Geldabheben dabei gewesen sei und er mei*ne, seine erste Abhebung sei mit einer Karte des Ziraat Bank Kontos gewesen. Demnach wäre es erst nach der Rückkehr des Emre Ates aus dem Urlaub, d. h. erst ab dem 26.09.2012 möglich gewesen, dass die drei Angeschuldigten zusammen Geld abgehoben hätten.
Soweit der Angeschuldigte P. über seinen Verteidiger (Schriftsatz vom 09.11.2013) vortragen lässt, er habe während der hier relevanten Tatzeit nicht mit beiden Brüdern zusammengearbeitet, haben dies die Ermittlungen nicht bestätigt:

Insoweit ist festzustellen, dass Emre Ates im Chatverlauf mit der der ICQ* Kennung 1111 222 mit „Steven Bollywood“ am 18.07.12 (Hauptakte 10, Bl.13) angibt:,,ich schwöre dir, mein bruder wird nichts von der bd erfahren er ist sowieso 2 monate weg weswegen der auch sauer ist weil der selber nicht fillen kann(…)“. Da* her dürfte C. Mitte oder Ende Juli 2012 nicht in Deutschland gewesen sein.

Außerdem ist auch nicht ersichtlich, welche EC-Karte den Ates Mitte/Ende Juli 2012 zur Verfügung gestanden haben könnte. Die erste Bargeldabhebung mit der EC-Karte des Ziraat Bank Kontos im Raum Stuttgart fand erst am 27.08.2012 in Hailfingen (Stadtteil von Rottenburg a. N.) statt. Die vorherigen Abhebungen mit die*ser EC-Karte fanden im Hamburg statt und dienten der „Bezahlung“ des Girokontos. Auf das Girokonto bei der Volksbank Kiel, das der tatsächliche Inhaber Max Zierke zur Verfügung gestellt haben dürfte, gingen seit 10.07.2012 Überweisungen im Zusammenhang mit Bahnfahrkarten ein (Hauptakte2, BI. 4/38 ff.). Jedoch fanden die Abhebungen ausschließlich im Stadtgebiet Kiel statt.
Auch im Verfahren, das den Tatzeitraum von Mai 2012 bis Ende August 2012 betrifft, stand den Brüdern Ates keine eigene EC-Karte zur Verfü*gung.
Daher müssten die Abhebungen, bei denen alle drei gemeinsam anwesend waren, im Oktober/November 2012 stattgefunden haben.

Emre habe ihm (P.) auch erzählt, dass C. A. öfters die Schule schwänze und er vermute, dass er dann in Emres Wohnung gewesen sei, zu der er einen Schlüssel gehabt habe. Im Zusammenhang mit Fragen zu einem Briefkastendrop gibt er an, dass die (Brüder) sowieso immer zusammen gewesen seien. Er geht auch davon aus, dass beide Brüder gegenseitig Zugriff auf ihre ICQ* Nicknamen gehabt hätten.

Letzeres ergibt sich auch aus dem auf dem Laptop IBM (sichergestellt von der Bun*despolizei Kassel am 22.08.2012) für den 06.03.2012 gesicherten Chatverlauf, in dem C. A. unter der ICQ-Nummer 1111 222, die Emre Ates durchgehend bis zur seiner Verhaftung benutzte, schreibt „aber ich bin der Bruder“ (Chat-Verlauf vom 06.03.2012, 17.21 h, Hauptakte 9, BI. 13, unten).

Beide Brüder hätten ihm ca. im November 2012 erzählt, die EC-Karte sei eingezogen worden, vermutlich um den Gewinn nicht weiter mit ihm zu teilen. Insgesamt lässt sich der Aussage des P. entnehmen, dass dem C. A., der bis Mitte September 2012 in der Türkei war, das Konto der Ziraat Bank zunächst nicht be*kannt gewesen sein könnte. Allerdings ist aufgrund der engen Beziehung der Brüder zueinander, den gemeinsamen Geldabhebungen und der gleichartigen Konfiguration der PC der Brüder davon auszugehen, dass C. A. seit seiner Rückkehr aus der Türkei (wieder) tatbeteiligt war. Hierfür spricht auch die Aussage des P., dass ihm später beide Brüder erklärt hätten, die EC-Karte sei eingezogen worden.

Als erster Fehltag in der Schule ist bei C. der 20.09.12 vermerkt. Emre Ates war vom 10.09.2012 bis 26.09.2012 in der Türkei. Ab dem 27.09.2012 ist von einer Fortführung der gemeinsamen Taten auszugehen. Die erste Buchung seit diesem Zeitpunkt fand am 09.10.2012 statt.

Eigene Kontakte des C. A. zu Kreditkartendatenverkäufern ergeben sich noch aus folgendem:

Der ICQ-Chatverlauf vom 09.03.2013, 15.01 h, gesichert auf dem Laptop des C. A., Kennung 55556666 mit 11111111, lautet:

,,Hi, deine CC’s waren gut, ¾ haben gefunzt. nur der hier war invalid“ (Hauptakte 8, BI. 36).

Der auf demselben Laptop gesicherte Chat von der ICQ-Kennung 55556666 mit 44447777 am 11.11.2012 um 14.24 h (Hauptakte 8, 81.11) lautet:

„Hey, ich hatte ja letztens von dir 10 stück CCs gekauft, aber 5 davon gingen nicht und zwar die(…)“

Dass die Brüder Ates viele Personen aus den „schwarzen Foren“ gemeinsam kannten, ergibt sich beispielsweise auch aus diesem Chat, gesichert auf dem Laptop IBM Chat zwischen der ICQ-Kennung 999998888 und der ICQ-Kennung 444444444 am 15.02.2012, bei dem 999998888 anfragt:,, kannst du mir kurz bd da*ten von meinem bruder geben, der ist grad net da und geht nicht an sein handy ran, wollte psc drauf auscashen“ (Hauptakte 9 B1.15) und von derselben Kennung „bin
dann wieder off, muss was für meine mutter erledigen. ich sag meinem bruder nochmal, dass du auf ihn wartest“.

Ähnliches ergibt sich aus dem auf dem Laptop Sony (C. A.) gesicherten Chat-Verlauf von 45356689 „Flippi“ an die ICQ-Kennung 11111111 (C. A.) am 27.02.2013 (Hauptakte 8, BI. 42) ,,da dein bruder busted wurde und dann gehe ich mal davon aus, dass du auch erwischt wurdest“. Die Antwort lautet:

,,kk“.

c) Tatbeteiligung des A. P.:

Der Tatverdacht gegen den Angeschuldigten P. ergab sich aufgrund der im Rah*men des Verfahrens bei der Bundespolizei Kassel durchgeführ*ten TKÜ-Überwachung des Telefonanschlusses 11111111111, Inhaber M. A. Aus dieser TKÜ wurde ein Ge*spräch zwischen dem oben genannten Anschluss und der Telefonnummer 2222222222, Inhaber A. P., am 26.08.2012 zwischen 21:09 Uhr und 21:1O Uhr mitgeschnitten (Hauptakte 3, BI. 79). Gegenstand dieses Gesprächs ist das Problem, dass eingestellte Angebote bei www.mitfahrgelegenheit.de schnell wieder vom An*bieter gelöscht werden. Hierbei wird diskutiert, ob dies am eingestellten Text oder an der verwendeten IP-Adresse liegt. Bis zu diesem Zeitpunkt fanden die Buchungen bei der DB AG fast ausschließlich mit einem Surf-Stick des Internetserviceproviders O2 statt. Die weiteren Buchungen, die nach diesem Gespräch getätigt wurden, sind im Zeitraum 27.08.2012 bis 10.11.2012 mit der IP-Adresse des lnternetservicesproviders Lycamobile getätigt wurden, für den der IP-Stamm 83.137.2. mitgeloggt wird.

Aufgrund dieses Gesprächs wurde ein entsprechender Durchsuchungsbeschluss beim Amtsgericht Stuttgart beantragt und am 06.08.2013 vollzogen (LO „A. P.“, BI. 199 ff.).

Der Angeschuldigte P. machte, wie bereits ausgeführt, bei seiner Vernehmung am 06.08.2013 umfassende Angaben zu seiner Tatbeteiligung. Hierbei gab P. auch an, dass „BXW“ sein ICQ-Nickname sei. In der Stellungnahme des Verteidigers vom 09.11.2013 hat dieser weitere, teils modifizierende Angaben gemacht.

Fest steht, dass der Angeschuldigte Emre Ates im Zeitraum vom 17.07.2012 bis zum 07.09.2012 als Ferienarbeiter beschäftigt war und es ihm aufgrund seiner Tätigkeit nicht möglich war, während der Arbeitszeit Buchungen durchzuführen.

Zugleich befand sich der Angeschuldigte C. A. zu dieser Zeit noch in der Türkei. Selbst wenn er hier einen deutschen Surf-Stick dabei gehabt hätte, wäre die Nutzung des Surf-Sticks dort technisch nicht möglich gewesen (Hauptakte 2, BI. 52).

So sind dem Angeschuldigten P. sicher die Taten 1, 12 – 14, 82 – 96, 102, 104, 107 – 117, 120 – 122, 125 – 128, 131, 132, 133, 134- 138,143 – 151, 152/153 zuzu*ordnen.

Das gleiche gilt für den Zeitraum vom 10.09.2012 bis zum 25.09.2012, als Emre Ates im Urlaub in der Türkei war, d.h. für die Taten 158 bis 256. In diesem Zeit* raum stand dem Angeschuldigten P. auch die EC-Karte für das Ziraat Bank Konto zur Verfügung, mit der er am 14.09.2012 500,00 € an einem Geldautomat in Böblingen abgehoben hat.

Dies hat der Angeschuldigte P. auch eingeräumt.

Auf dem PC Medion wurde am 25.07.2012 ein Chat zwischen der von Emre verwen*deten ICQ-Kennung 1111 222 und „BXW“ gesichert, bei dem 1111 222 der Ken*nung „BXW“ zahlreiche Bank- und Kreditkartendaten mitteilt. Am 30.07.2012 gegen 22.30 h wurde ein Chatgespräch zwischen den beiden Kennungen gesichert, bei dem „BXW“ mitteilt, dass er gerade beim „fillen“ ist, also bei der Buchung von Bahnti*ckets, um das Girokonto durch die Kaufpreiszahlungen der Reisenden zu füllen. Am 30.07.2012 wurden zwischen 16.05 h und 23.57 h 15 Bahntickets gebucht.

Am 25.07.2012 teilte 1111 222 dem ICQ-Nickname „Lukas Kichmann“, über den er ,,Randoms“ (Kreditkartendaten) mit, er habe jetzt einen Partner, der dieselbe „uin“ (United Internet Number bzw. Unified ldentification Number- eindeutige ldentifizie* rungsnummer bei ICQ) benutze, er solle sich nicht wundern, wenn dieser anders schreibe. Aus alldem ergibt sich, dass der Angeschuldigte P. eigenständig aber im Rahmen des gemeinsamen Tatplans mit den Emre und teilweise auch mit C. A. zahlreiche Bahnticketbuchungen bei der Deutschen Bahn AG durchgeführt hat.

Bandenabrede
Die Brüder Ates müssen dem Angeschuldigten A. P. bereits zu einem deutlich früheren Zeitpunkt als Juli 2012 von ihrem Nebenjob erzählt haben, da A. P. angibt, zunächst habe man für die Buchungen bei der Deutschen Bahn AG verschiedene Verschlüsselungssysteme wie VPN und Proxyserver verwendet, während für die hiesigen Taten offensichtlich Surf-Sticks verwendet wurden. Beide Brüder hätten ihn zum Mitmachen bei dem Nebenjob animiert. Es ist davon auszu*gehen, dass sich die drei Angeschuldigten seit Ende September 2012 zur arbeitstei*ligen Begehung von Bahnticketbuchung verabredet haben und den Gewinn unter sich aufgeteilt haben. Hierfür spricht auch, dass alle drei Angeschuldigten alle we*sentlichen Aufgaben, die hierfür notwendig waren, wahrgenommen haben und an*schließend zu Dritt das Geld abgehoben haben. Auch der Angeschuldigte P. hat*te eine eigene ICQ-Nummer (ICQ-Nick „BXW“), um den notwendigen Kontakt zu den anderen ICQ-Mitgliedern z.B. für die Übersendung von Kreditkartendaten zu halten.

Hinsichtlich der gemeinsamen Geldabhebungen wird auf die obigen Ausführungen verwiesen.

3. Rechtliche Würdigung:

Der Tatbestand des Computerbetrugs wird durch die Bestellung und den Ankauf der Bahntickets bei der Deutschen Bahn AG unter Verwendung von fremden Kreditkar*tendaten zur Zahlung der Online-Tickets erfüllt.

Der Ankauf der fremden Kreditkartendaten stellt insoweit eine Vorbereitungshand*lung zur Durchführung des Computerbetrugs dar. Soweit die Daten von Dritten gemäß

202 a StGB ausgespäht oder auf andere Weise rechtswidrig erlangt wurden, stellt der bloße Ankauf der Daten -bislang- i. d. R. keine Straftat dar. Etwas andere könnte sich ergeben, soweit ein Dritter zur strafbaren Beschaffung der Daten angestiftet wurde. Regelmäßig werden jedoch bereits vorhandene Datensätze verkauft.
Beendet ist der Computerbetrug mit dem Eingang des Bahntickets auf dem E-Mail* Konto der Angeschuldigten. Zu diesem Zeitpunkt hat die Deutsche Bahn AG über das Online-Ticket verfügt und die Angeschuldigten haben dieses erlangt, während die Deutsche Bahn AG eine wertlose Gegenleistung erhalten hat.

Ob und wie der „Reisende“ den Kaufpreis für das Bahnticket bezahlt, ist zwar für die Angeschuldigten von wirtschaftlicher Bedeutung, aber für die Erfüllung des Tatbestands des Computerbetrugs unerheblich.

4. Sonstiges:

Hinsichtlich des Beschlagnahmebeschlusses des Postbankkontos Enrico Monti (Restguthaben: 3.737,54 €) vom 12.06.2013 soll dieser weiter aufrechterhalten werden (§ 111 i Abs. 2, 3 StPO). Dies gilt auch für die bei der Verhaftung sichergestellten 955,- € Bargeld, die aus der Geldab*hebung vom Girokonto „Enrico Monti“ unmittelbar zuvor stammt. Ein Verfall dürfte hier aufgrund des§ 73 Abs. 1 Satz 2 GB nicht möglich sein.

Gegen den Angeschuldigten A. P. wurde in dem parallel gelagerten Verfah*ren nach vorläufiger Festnahme am 06.08.2013 am 07.08.2013 ein Haftbefehl vom Amtsgericht Stuttgart erlassen und in Voll*zug gesetzt. Durch Entscheidung des Landgerichts Stuttgart vom 14.08.2013 wurde der Haftbefehl unter verschiedenen Auflagen außer Vollzug gesetzt.

Ich beantrage,

das Hauptverfahren zu eröffnen,
neue Haftbefehle im Umfang der Anklage gegen die drei Angeschuldigten zu erlassen und die bisherigen Haftbefehle gegen Emre Ates und C. A. aufzuheben. Der Haftbefehl gegen A. P. kann unter entsprechenden Auflagen außer Vollzug gesetzt werden.
 

BeSure

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Kapitel 38 - Drei Engel für Emre


Endlich, die Ermittlungen hatten ein Ende. Die Anklageschrift glich meinem Geständnis, die darin aufgezählten Informationen und Erkenntnisse hatten sie mehrheitlich unseren Geständnissen zu verdanken. Die Beweise hatten sie alle auf dem Rechner gefunden, denn ich war derjenige gewesen, der das Verschlüsselungspasswort genannt hatte. Ich war sauer, dass die sogenannten Ermittlungen sich so in die Länge gezogen hatten und schlussendlich doch nur in der Anklageschrift das stand, was ich schon vor Monaten der Bundespolizei München mitgeteilt hatte. Gedanken, wie „Hätte ich kein Geständnis abgegeben, wäre ich nun wahrscheinlich frei“ – machten sich in meinem Kopf breit. Nachdem ich mich in meiner Zelle beruhigt hatte, und die Glocke zur Freizeit läutete, begab ich mich mit der Anklageschrift zu den Türken. In der Hoffnung, dass sie mir sagen konnten, was für ein Urteil ich mit dieser Anklageschrift zu erwarten habe, reichte ich die Anklageschrift von Häftling zu Häftling weiter. Jeder wusste seinen Senf dazuzugeben. Das Ergebnis gefiel mir in der Bilanz jedoch überhaupt nicht. Zwar waren viele verschiedene Meinungen dabei, jedoch nicht jene, die ich mir so sehr gewünscht hatte: „Du wirst bei deinem Geständnis auf jeden Fall beim Gerichtstermin entlassen.“ Dennoch bekam ich von Tayfun einen heißen Tipp: „Beantrage doch eine Telefongenehmigung, dann kannst deine Familie einmal die Woche für 10 Minuten anrufen. Wenn die Ermittlungen zu Ende sind, werden die dir das genehmigen, da du ja quasi nichts mehr verraten kannst.“

An diesem Abend zückte ich meinen Stift und schrieb an die Staatsanwaltschaft, mit der Bitte um eine Genehmigung für Telefongespräche mit meiner Familie. Im Zuge dessen verfasste ich meinen ersten Brief an meinen Bruder Cem, der noch in Stammheim saß. Die überaus emotionalen Zeilen, die ich verfasste, waren mir zu diesem Zeitpunkt keineswegs peinlich. Während ich versuchte, ihm näher zu bringen, dass es mir in der JVA richtig gut ging, und ich dem Brief sogar eine Zeichnung des Teiches beilegte, entschuldigte ich mich bei ihm für seine missliche Lage und versicherte ihm, dass bald alles besser werden würde.

Es verging einige Zeit, bis ich eine Antwort von Cem bekam. Er sorgte dafür, dass ich jede meiner Zeilen an ihn bereute und in mir das Gefühl aufkam, ich hätte ebenso für die Mülltonne schreiben können: „Heul nicht wie eine Schwuchtel“, stand zu Beginn des Briefes. Ein paar seiner selbstgetexteten Rap-Zeilen hatte er mitgeschickt, ansonsten hatte er nicht viel mitzuteilen, außer, dass es in Stammheim „hart“ zu Sache ginge.

Meine kleine Schwester hingegen schickte mir immer wieder wunderschöne und kindliche Zeichnungen zu, und bezeugte mir immer wieder in ihrer süßen, krakeligen Schrift ihre niemals endende Geschwisterliebe.

Nach einigen Tagen kam endlich die Telefongenehmigung der Staatsanwaltschaft an. Auch, wenn ich wöchentlich meine Eltern sah, waren die 30 Minuten Besuchszeit keineswegs genug. Die zehn Minuten Telefonat pro Woche zusätzlich waren da ein willkommenes Entgegenkommen. Sofort vereinbarte ich mit dem Beamten einen Termin während der Freizeit: „Es wird nur Deutsch gesprochen und wir müssen mithören“, wies mich der Beamte an, bevor er die Festnetznummer meiner Eltern wählte und ich zum Hörer greifen durfte.

Meine Mutter ging ran und war positiv überrascht, mich am Telefon zu hören. Nachdem ich ein paar Worte mit ihr gewechselt hatte und sie auf das Zeitlimit hingewiesen hatte, fragte ich etwas beschämt: „Ist die Kleine da?“

Ich hörte, wie meine Mutter nach ihr rief und ihr sagte: „Emre Abi ist am Apparat.“

Es war viel zu lange her, dass ich das letzte Mal ihre Engelsstimme gehört hatte: „Emre Abi?“, ertönte sie. In dem Augenblick wurden meine Augen feucht, ich bekam Gänsehaut und war sogar leicht aufgeregt: „Mein kleiner Engel! Wie geht es dir?“ Ich war auf einmal überfordert mit dem Gespräch, was sollte ich ihr bloß auf die Frage antworten, wo ich bin, wenn sie fragen würde? Sie antwortete mir auf Türkisch, dass es ihr gut ginge und begann, vom Kindergarten zu erzählen. Auf den Hinweis, dass sie doch bitte Deutsch reden möge, reagierte sie kurz, indem sie die folgenden Sätze auf Deutsch begann. Doch sie fuhr immer wieder auf Türkisch fort. Der Mimik des Beamten, der an einem anderen Hörer unser Gespräch mithörte, entnahm ich, dass er die türkische Sprache tolerierte – wahrscheinlich, weil es sich um ein kleines Kind handelte. Sie war in Erzähllaune, für mich ein Genuss für die Ohren, und ihre phantasievollen Erzählungen projizierte wie von selbst die Bilder dazu in mein Gehirn. Die Zeit verging so schnell, dass ich sie leider mitten im Satz unterbrechen musste: „Engelchen, ich muss jetzt leider auflegen. Ich liebe dich sehr! Ich werde hoffentlich bald daheim sein, aber ich habe aktuell sehr viel zu tun in der Uni.“ Es fiel mir schwer, ihr ein Versprechen zu geben, dessen Einhaltung nicht in meiner Macht lag. „Ich liebe dich auch, Emre Abi! Komm bald, ich vermisse dich!“, und mit einem Knutschgeräusch und einem quietschvergnügten „Tschüss!“ verabschiedete sie sich von mir.

Die Tage vergingen, und ich wartete darauf, dass endlich meine Gerichtstermine eintrudelten. Und er kam – viel zu schnell, und vor allem unspektakulär: mein erster Geburtstag in Haft. „Alles Gute Bruder, ich hoffe, Du musst keinen weiteren Geburtstag mehr hier drin verbringen“, war grundsätzlich das, was ich von meinen Mithäftlingen zu hören bekam, wenn sie von meinem Geburtstag erfuhren.

„Herr Nils, Sie hatten Recht, ich werde wohl Weihnachten hier verbringen!“ Das musste ich auch mir selber langsam eingestehen. Immerhin war es schon der erste Dezember. Herr Nils grinste nur: „Ich hoffe für dich, dass es auch dein letztes Weihnachten in Haft wird.“

Ich schrieb einen Brief an meine Zwillingsschwester, sie hatte ja schließlich auch Geburtstag. Wenigstens der Briefverkehr mit ihr war intensiv, sie schrieb mir fast wöchentlich. Der nächste Besuch stand auch wieder an. Ich machte mich frisch, indem ich mich in die Dusche begab, mir Creme auf das Gesicht schmierte und etwas Haarwachs in die Haare gab. Bei jedem Mal wurde ich besser darin, und so sah meine Frisur inzwischen recht ansehnlich aus – verglichen mit meinen Anfangsversuchen mit irgendwelchen Tiegeln und Töpfchen der Haarkosmetik. Mit meiner Jogging-Hose und meiner Trainingsjacke ging ich dann wie ein richtiger Kanake in den Besucherraum. „Draußen“ wäre ich so niemals vor die Leute getreten, doch vor allem an meiner Kleidung konnte ich nichts ändern, da nur solche „Schlabberklamotten“ erlaubt waren. Ich konnte meinen Augen genauso wenig trauen, als ich sie sah, wie sie ihren, als sie mich sah: Nicht meine Eltern, sondern meine Zwillingsschwester stand zuerst vor mir! Erneutes Gefühlschaos füllte die Stimmung des Raumes, sieben Monate waren vergangen, seit ich meine Zwillingsschwester zuletzt gesehen hatte. Wir umarmten uns so fest, wie ich meine Mutter zu Anfangszeiten immer umarmt hatte. Tränen flossen aus den Augen meiner Schwester: „Schwesterchen, hör auf zu weinen. Engel weinen doch nicht.“ Dies sagte ich in einem humorvollen Ton, sodass sie lächeln musste. Meine Mutter war auch dabei, die ich ebenfalls fest drückte. Sie schien auch von dem Wiedersehen ihrer Zwillinge gerührt zu sein. Der Tisch war bedeckt mit mehreren Süßigkeiten und Kaffee: „Wir haben heute eine Stunde Besuch und werden nicht mehr akustisch überwacht, nur noch optisch“, wies mich meine Schwester auf die neuen Regelungen hin, als ich nach dem fehlenden Beamten im Besucherraum Ausschau hielt. „Wir dürfen dann türkisch reden?“, wollte ich wissen. Auch wenn es keiner von uns dreien richtig beantworten konnte, so war die Antwort wohl klar. Endlich konnte ich mit meiner Mutter auf einer Wellenlänge reden, endlich konnte sie mir besser erzählen, wie es ihr ging, endlich konnte ich meine Gefühle besser zu Ausdruck bringen und endlich konnte ich ihre türkische Stimme hören, die familiäre Nähe besser spüren, die sich eindeutig auch sprachlich manifestierte. Die deutsche Sprache wurde selten in unserer Familie zur Kommunikation benutzt, umso stärker war das Fremdheitsgefühl, wenn wir uns in deutscher Sprache unterhielten. Mit meiner Zwillingsschwester jedoch kommunizierte ich zum Großteil auf Deutsch. „Es tut mir so leid, dass ich dich bisher nicht besuchte habe, Emre! Papa hat es nicht zugelassen, er redete etwas vonwegen ich solle deinen Zustand nicht sehen, es würde mir nicht guttun. Doch dich gar nicht zu sehen, hat mir auch nicht gutgetan. Als ich dann erfahren habe, dass die Ermittlungen beendet sind und ihr immer noch drin seid, habe ich meinem Vater klipp und klar gesagt, dass ich euch endlich besuchen will.“ Ich konnte mir gut vorstellen, welche abstrusen Gedanken mein Vater in dieser Hinsicht geäußert hatte und auch, weshalb meine Schwester eine Weile gebraucht hatte, bis sie sich durchsetzen konnte. Doch all das war mir egal, sie stand vor mir, genauso wie ich sie in Erinnerung hatte. Während sie von ihrem Studium erzählte, beneidete ich sie und bereute es, dass ich so leichtsinnig die Freiheit des Studiums gegen die Gefangenschaft im Knast eingetauscht hatte. Schon oft hatte ich das Gespräch zu Beamten und Sozialarbeitern, aber auch zu meinem Rechtsanwalt aufgesucht, und nach Möglichkeiten zur Aufnahme eines Studiums während der Haftzeit gefragt. Ich war stets erfolglos. Lediglich ein Fernstudium an der Uni Hagen würde für mich in Frage kommen. Doch auch erst, wenn ich in Strafhaft wäre. Die eine Stunde Besuchszeit fühlte sich kaum länger an als die bisherigen 30 Minuten. Nachdem meine Mutter mir zum Besuchsende die zwei üblichen Schokoladentafeln überreicht hatte, ging ich glücklich in meine Zelle zurück und verschlang sofort eine ganze Tafel. Die andere verzockte ich dann während des Pokerns beim Umschluss am Wochenende.

Weihnachten rückte immer näher und somit auch Silvester, es würden harte Tage auf uns zukommen. Wie ich mitbekommen hatte, würden wir weniger Freizeit haben. Stattdessen gab es nur Umschluss und auch die Hofgangszeiten würden sich ändern.

Die Besuchstermine standen auch nur eingeschränkt zur Verfügung. Umso mehr freute ich mich auf den nächsten Besuch und auf das nächste Telefonat. Desto größer war dann die Enttäuschung, als niemand am anderen Ende der Telefonleitung ranging. Der Beamte bot mir an, es in einer halben Stunde noch einmal zu versuchen. Aber der Telefonanruf schlug auch fehl. Leider musste ich dann auf das Telefonat in dieser Woche verzichten und durfte mich „lediglich“ auf den Besuch diese Woche freuen. Die Freude hielt sich aber in Grenzen, da ich vermutete, dass mein Vater wieder dran war mich zu besuchen, worauf ich gar keine Lust hatte. Der Besuchstag stand an und ich befand mich diesmal länger als üblich im Warteraum. Leider hatte ich kein Zeitgefühl und auch keine Uhr. So erkannte ich nicht, dass sich meine Besuchszeit bereits dem Ende zugeneigt hatte und ich mich noch immer im Warteraum befand. Ich zögerte erst ein wenig, doch dann drückte ich den Notruf im Warteraum:

„Ja, bitte?“, ertönte eine Stimme aus den Lautsprechern.

„Ja, hier Ates. Ich bin schon die ganze Zeit im Warteraum. Ich hätte eigentlich Besuch um 9:00 Uhr gehabt, wie viel Uhr haben wir?“

„Wir holen Sie ab.“

Eine Beamtin kam und entschuldigte sich, sie hätten mich vergessen, aber mein Besuch wäre nicht gekommen. „Vielleicht stecken sie im Stau, können wir nicht noch ein bisschen warten?“, fragte ich besorgt. „Es ist schon kurz nach halb zehn, auch wenn die jetzt ankommen, dürfen sie nicht rein.“ Enttäuscht wurde ich zurück in mein Stockwerk gebracht und suchte sofort den Beamten im Büro auf, in der Hoffnung, er wisse vielleicht mehr. In der Tat war es wohl so, dass meine Eltern den Besuch kurzfristig abgesagt hatten. Ein unwohles Gefühl machte sich breit. Was wohl passiert war?

Auch, wenn ich meist ein unangenehmes Kopfkino in der Haft hatte, hatte ich in diesem Fall weniger besorgniserregende Gedanken. Vielmehr dachte ich, dass sie es zeitlich nicht geschafft hatten.

Es war noch nicht Mitte Dezember, als ein Brief vom Gericht eintraf. Ich zerriss den Umschlag und sah, dass ich demnächst einen Gerichtstermin hatte! „Bruder, Du kommst auf jeden Fall raus! Wenn die nur einen Termin angesetzt haben, wollen die dich sicherlich auf Bewährung rausholen“, war die Meinung von Savas. Mich überkam eine Welle des Glücks. In den nächsten Tagen würde ich endlich rauskommen! Kurzfristig hatte mein Anwalt auch einen Termin in der JVA vereinbart. Sogleich holte er mich von Wolke 7 wieder herunter: „Herr Ates, ich muss Sie leider enttäuschen, das ist nur ein Haftprüfungstermin, weil Sie bald 9 Monate in U-Haft sind und geprüft werden muss, ob das Gericht Sie noch in U-Haft behalten darf.“ Ich war am Boden zerstört, wollten die mich etwa noch länger als 9 Monate in U-Haft lassen?! Oder vielleicht müssten die mich frei lassen, weil sie zu lange gebraucht hatten mit den Ermittlungen.„Wissen Sie eigentlich, wo ihre Familie ist?“ fragte mich mein Anwalt, es war wohl eine rhetorische Frage, denn auf mein „Nein“ antwortete er mit: „Sie sind in der Türkei.“ Ich war überrascht: „Urlaub machen, oder wie?“, wollte ich wissen. „Ich weiß nicht, weshalb. Ich weiß nur, dass sie gerade in der Türkei sind. Ich habe nämlich mit ihrem Vater telefoniert, wegen des Termins.“

Zurück in meiner Zelle überkam mich ein unangenehmes Gefühl. Eine Wut darüber, dass ich in den nächsten Tagen doch nicht rauskommen würde und meine Eltern mich nicht besucht hatten, weil sie lieber Urlaub machten, ohne mir davor Bescheid zu geben, machte sich in mir breit. Mit diesem Gefühl schlief ich schließlich ein. Der Gerichtstermin stand für morgen an und heute war bereits der nächste Besuchstermin meiner Eltern. Ich wusste nicht, ob dieser stattfinden würde.

Doch er fand statt. Diesmal war meine Mutter alleine da. Während unseres Gespräches betonte ich immer wieder, dass ich enttäuscht war, dass sie den Besuch abgesagt hatten und ich fast eine Stunde im Warteraum gewartet hatte. Meine Mutter blieb standhaft und hatte Ausreden parat, als ich ihr ein schlechtes Gewissen einreden wollte. Dann ließ ich die Bombe platzen: „Mama, ich weiß, dass ihr in der Türkei im Urlaub wart! Ich habe es von meinem Anwalt erfahren.“

Sie blickte mir traurig in die Augen: „Emre, es fällt mir schwer, dir das zu sagen. Aber ich denke, es ist besser, wenn ich Dir das mitteile. Wir waren in der Türkei, weil mein Vater vom Balkon gestürzt ist. Er ist sofort gestorben.“
 

boratino

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Hallo BeSure,
wenn Du die deutsche & die türkische Staatsangehörigkeit hast, wie in Kapitel 37 zu lesen ist, warum versuchst Du dann mit dem türkischen Pass nach Ägypten zu fliegen? :unknown:
 

BeSure

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@boratino
Weil ich die deutsche nicht mehr habe :D

@T_Low_Benz
Dein Wunsch ist mir Befehl :)

Kapitel 39 - Der Arsch


Mein Großvater war gestorben, und es lastete kaum auf mir.
Es war vielmehr der Gedanke an meine Mutter, der mir – wie schon so oft – den Schlaf raubte. In den ganzen deutschsprachigen Rapsongs, die ich in der Haftzeit kennen und hören lernte – ich hatte so etwas zuvor nie angehört – prahlten die Rapper mit ihren weltbewegenden, „Scheiß-auf-alles“- Taten und fluchten, was das Zeug hielt. Doch fiel ein Wort über die Mutter, klangen alle wie Muttersöhnchen. Meiner persönlichen Meinung nach ist dies kulturell bedingt. Das Frauenbild in meiner Kultur präsentiert sich nicht wirklich als autonom, eine Frau ist auch heutzutage noch eher abhängig von ihrem Gatten. Kaum ein Lebensziel verfolgt sie nur für sich, denn eigentlich zählt nur eines: die bestmögliche Versorgung ihrer Kinder. Das war zumindest, was ich mitbekam – denn meine Mutter entsprach exakt diesem Bild. Bereits in ihren Teenagerjahren wurde sie verheiratet, genoss keinerlei Bildung, wurde dazu gezwungen, in ein fremdes Land zu reisen, gänzlich ohne Kenntnis von Kultur und Sprache, und war zudem völlig allein und finanziell abhängig von meinem Vater. Über uns Kinder erhielt sie ihren Zugang nach draußen, und so folgte sie der Mutterrolle immer gewissenhaft, um uns ein besseres Leben zu schenken. Mein Großvater war gewiss kein schlechter Mensch, ich glaube sogar, dass er es gut meinte, als er seine jüngste Tochter einfach in die Hände eines Wildfremden gab. Meine Großeltern folgten lediglich der Tradition, die sie für richtig hielten. Ich weiß, dass sie ihre Tochter, meine Mutter, sehr liebten und alles dafür taten, um sie, wie sie dachten, glücklich zu machen. Mein Großvater war nun fort, für immer. Auch ich liebe meine Mutter sehr und würde alles für sie tun, schließlich opferte sie so viel für uns Kinder.
Nun sind ihre Söhne fort, zwar nur für eine kurze Zeit, doch sie wollte und wollte einfach nicht vergehen. Für mich war es stets schwer, im Körper des „guten“ Sohns zu stecken, der alles tat, was die Eltern verlangten. Es fiel mir schwer, ich wollte jemand anderes sein, aber für mich war es lange Zeit wichtiger gewesen, meine Mutter nicht zu enttäuschen.
Dabei wusste ich nicht einmal wirklich, wer ich denn anderes sein wollte. Ich wusste nur, dass ich mich in keine der Rollen gut fühlte. Ich wollte nie der sein, der den Traditionen seiner Eltern bedingungslos folgte, doch wollte ich ebenfalls nie der Betrüger sein, der in Haft einsaß und seinen jüngeren Bruder in die Scheiße mit hineinzog. Bei meiner Entlassung würde sich das alles ändern. Und vielleicht, ganz vielleicht, war es bald soweit.

Ich stieg aus dem Auto aus, hatte wohlgemerkt noch meine Handschellen an, und befand mich in einer großen Garage, in der sich mehrere Transportwagen befanden. Vor zwei Stunden hatte man mich in der JVA zur Kammer gerufen, wo ich saubere Klamotten, eine Jeans und ein Hemd mit Sakko, anziehen durfte. Meine Eltern hatten diese Klamotten dagelassen, und ich musste zugeben, dass ich mich darin inzwischen ziemlich unwohl fühlte. So fragte ich den Beamten ziemlich schnippisch: „Ach, zum Gerichtstermin darf der Häftling sich hübsch machen, ja?“ Er bugsierte mich zum Transporter. „Von mir aus kannst du auch in Jogginghose gehen, nur würde sich das ziemlich negativ auf dein Erscheinungsbild auswirken.“ Die zwei Stunden Fahrt vergingen sehr schnell, da ich in meine Gedanken vertieft war und die Aussicht auf die für mich sehr frisch wirkende Landschaft genoss. Glücklicherweise mieden wir die Autobahn, sofern es ging. Die Beamten führten mich durch einen Gang in eine Wartezelle und schlossen ab. Jetzt hieß es, wie so oft in der Haft, Warten und Kopfkino an. Es war ein einzelner Termin und mein Anwalt meinte, dass es sich um eine 9 – Monats-Haftprüfung handelte, und in einem Monat die 9-Monats-Grenze erreicht werden würde. Für mich hieß dies in logischer Konsequenz, dass die mich entweder heute entlassen müssten, wenn bis Mitte Januar kein Gerichtstermin zustande kommen würde, oder dass bis spätestens zu diesem Zeitpunkt Gerichtsverhandlungen stattfinden müssten. So oder so würde ich heute eine erleichternde Botschaft bekommen. Es fiel mir so unendlich schwer, die Monate in Ungewissheit zu verbringen. Ich wollte endlich mein Urteil.

Als Reiniger hatte ich mich an die offene Tür gewöhnt. Umso schwerer fiel es mir, nun mal wieder die Zeit wartend zu vertreiben. Lesestoff hatte ich leider nicht dabei. Gelangweilt ließ ich meinen Blick also durch den Raum schweifen, in dem es nicht viel gab – so fiel er auf die vollgekritzelte Wand, das wohl spannendste an dem sonst leeren Zimmer. An einem Gekritzel blieb er hängen.

„Bir gün gelecek, bir gün kalacak“.

Eines der motivierenden Dinge, die ich während meiner Haftzeit bis hierhin zu lesen bekam, und dann auch noch in meiner Muttersprache: „Es wird der Tag kommen, an dem es nur noch ein Tag sein wird.“
Ab und an rief ich vom Fenster aus den Namen meines Bruders, vielleicht war er ja in der Zelle nebenan? Vielleicht war er auch gar nicht da, und wir würden nacheinander unsere Verhandlungen haben. Doch die Langeweile ließ meinen Sinn allerhand zusammenspinnen. Aber es war unwahrscheinlich…bereits bei der Haftprüfung waren wir schließlich getrennt worden. Als dann schließlich meine Tür aufging, ein Beamter mir wieder Handschellen anbrachte, lief ich neben ihm in Richtung Gerichtssaal. Ein paar Meter vor mir war ebenfalls ein Häftling, der von einem Beamten geführt wurde. War es möglich…? Ich sah die Person nur von hinten. Der Kopf war kahl rasiert, das konnte er gar nicht sein. Cem hatte immer volles Haar gehabt. Mein Blick wanderte vom Kopf hinunter, ich sah mir die Statur genauer an. Plötzlich überkam es mich. Diese fetten Arschbacken, die hoch und runter wackelten…das war definitiv der riesige Arsch von Cem! Ich rief durch den Gang: „Ceeem!“ Er blieb stehen und blickte zurück, und er war es tatsächlich! Ein breites Grinsen machte sich auf meinem Gesicht breit, ich hatte ihn stolze 8 Monate nicht gesehen und jetzt hatte ich ihn an seinem Arsch erkannt. Er grinste ebenfalls, reden konnten wir leider nicht, weil die Beamten uns weiter zum Gerichtssaal führten und einen gewissen Sicherheitsabstand einhielten. Als wir eintraten, sahen wir unsere beiden Anwälte und drei weibliche Personen auf dem Podest sitzen. Die mittlere Person wies uns auf unsere Plätze hin: „Darf ich neben meinem Bruder sitzen?“ fragte ich eingeschüchtert, sie bejahte überraschenderweise und so fand ich mich, nach so langer Zeit, neben meinem Bruder sitzend wieder. Wir blickten uns ständig grinsend an. Der Junge hatte sich einfach die Haare rasiert. Wollte er etwa gefährlich wirken? Grundsätzlich hoffte ich, dass die Richter nicht auf das äußere Erscheinungsbild achteten. Diese Befürchtung kam mir durch die Bemerkung des Beamten vorhin in den Sinn, dass das äußere Erscheinungsbild bei Gerichtsterminen wohl von Bedeutung sei.

Die weiblichen Personen erwiesen sich als unsere drei Richterinnen, die ebenfalls in der eigentlichen Hauptverhandlung für uns zuständig sein würden. Es war dasselbe Spiel wie damals zur Haftprüfung. Mein Anwalt war wieder kurz vor dem Einschlafen, während die Richterin den Wisch vortrug, in dem stand, weshalb wir nicht entlassen werden würden. Die Verdunklungsgefahr war zwar nun nicht mehr Gegenstand der Gründe für den Haftbefehl, nunmehr jedoch die Fluchtgefahr. Uns beide würde eine nicht unerhebliche Haftstrafe erwarten, wir hätten Familie in der Türkei und die Fluchtgefahr sei entsprechend hoch. Leider gäbe es keine Möglichkeit Verhandlungstermine für den Anfang des Jahres anzusetzen, da alles belegt wäre, doch die Gerichtstermine würden nun für März stehen. Ich traute meinen Ohren nicht. Wir sollten wieder bis März warten? Was bringen die ganzen Haftprüfungstermine, wenn sowieso alles feststand? Wieso können die das nicht einfach schriftlich mitteilen, dass wir nicht rauskommen und noch ein gutes Quartal warten mussten? Ich hasste diese Bürokratie. Zudem war es zum Verrücktwerden, dass die Verteidiger alles taten – nur nicht verteidigen. Ohne wirklich ein Wort mit meinem Bruder wechseln zu können, wurde ich zurück in die Wartezelle, dann in den Transport Richtung JVA, gesteckt – und lag kurz darauf in meinem Bett. Ich fühlte mich wie genötigt. Ich dachte schon, dass ich abgestumpft war und sie mich nicht mehr schocken könnten, doch sie toppten es immer wieder aufs Neue. Mein Anwalt ging mir auch auf die Nerven. Jedes Mal sah es so aus, als wären die Worte von den Richtern wie Meditationen für ihn, er schloss ständig seine Augen, sodass man befürchten musste, dass sie nicht mehr aufgingen, da er einem Herzinfarkt erlegen war.

Den Frust ließ ich am nächsten Tag bei meinen Mithäftlingen aus, die mir wieder nur mit anderen Anwaltsvorschlägen kamen. Nun kam die schlimmste Zeit in der Haft. Weihnachten! Freizeit war nicht mehr vorhanden, nur noch Umschlüsse und Sport gab es auch nicht mehr bis Anfang des nächsten Jahres. Wenigstens durften wir noch einen letzten Einkauf tätigen, ich hatte mich glücklicherweise mit mehreren Dutzend Stücken Nervennahrung versorgt. Dabei achtete ich stets auf Quantität statt Qualität, sonst hätte mein Geld für die Menge nicht gereicht. Ich sah es bereits kommen: Mehrere Mitleidsbriefe würde ich an meine Familie schreiben, das Schreiben half mir auch sehr, mich von meinem Frust zu entledigen.
Von Freunden las ich kein einziges Wort.
Dadurch, dass es keine Freizeit mehr gab, war es schwieriger, das von mir versteckte Handy hin und her zu geben. Kartal war inzwischen auch von seinen BS-Maßnahmen befreit und konnte mit uns in den Hof und zum Umschluss. Dennoch nahm er das Handy nicht zu sich. Alle hielten es einstimmig für das Sicherste, wenn das Handy bei mir bleiben würde. Ein Albaner, Tarek war sein Name, war seit geraumer Zeit in unserem Stockwerk, er war vom 1. Stock zu uns gezogen. Er hing mit unseren Türken ab und freundete sich ebenfalls mit Kartal gut an. Die nächsten Tage versteckte ich das Handy wohl nur noch für Tarek. Er war der einzige, der Bedarf nach dem geheimen Elektrogerät hatte. Und so holte ich es immer wieder aus dem Mülltonnenversteck heraus. Täglich sah ich mir Weihnachtsfilme an und versuchte in eine freudigere Stimmung zu kommen, doch war das nicht von Erfolg gekrönt. Täglich spielte ich Karten mit den beiden anderen Reinigern, wir hatten uns fast nichts mehr zu erzählen. Ab und an schmiedeten wir noch Pläne, wie wir wohl am einfachsten Geld „erwirtschaften“ könnten, sobald wir rauskämen. Wenigstens waren die Türen der Reiniger stets geöffnet. So saß ich wieder eines Tages beim kroatischen Reiniger in der Zelle, spielte Karten mit ihm und hörte zu, dass er sogar auch ehrlich Geld verdient hatte. „Ich habe Immobilien gekauft, die renovierungsbedürftig waren. Nach der Renovierung habe ich die Wohnungsobjekte mit Gewinn verkauft.“ An sich war das eine glaubhafte Geschichte, doch andererseits verstand ich nicht, weshalb er in Haft gekommen war. Laut ihm, weil er Schwarzarbeiter für die Renovierung beschäftigt hatte. Es war noch nicht mal Mittagsessenzeit, da hörte ich die Schlüsselgeräusche von Beamten, die wohl in Richtung unserer Zelle kamen. Zwei Beamten standen vor der Tür, der eine mit einem Koffer aus Aluminium. Ich wusste nur zu genau, was das für ein Koffer war.

„Herr Ates, wir müssen leider ihre Zelle kontrollieren“, ertönte die entschuldigend klingende Stimme des Beamten.

Mein Herz pochte wie wild. Was war das für ein entschuldigender Tonfall? Ich stand, betont gelassen, auf, und folgte den beiden Beamten in einen Freizeitraum. „Es tut uns wirklich leid, das kommt auf Anordnung des Bereichsdienstleisters“, meinte er. Diesmal sprach er die Entschuldigung aus. Ich kannte beide Beamte zwar gut und verstand mich auch mit ihnen, doch sie taten nur ihren Job, weshalb ich die Entschuldigungen nicht einordnen konnte. Doch dann kam die Erklärung.
„Sie müssen sich leider ausziehen. Wie gesagt, es tut mir wirklich leid!“ Nun lief ich rot an und schaute zu dem anderen Beamten, um sicherzugehen, dass das kein Witz war. Der zweite Beamte stand an der Ecke, er war jung, etwa in meinem Alter. Er versuche mich wohl zu trösten, indem er wegschaute. Währenddessen zog ich mich aus, wobei mir der erste Beamte entgegenkam und sagte: „Herr Ates, wenn Sie die Unterhose ausgezogen haben, drehen Sie sich einmal schnell im Kreis und ziehen sie sofort wieder hoch.“ Ich tat, was er sagte und war erleichtert, als es beendet war. Doch meine Gedanken waren trotzdem ganz woanders. „Wir gehen nun in Ihre Zelle, Sie warten dann bitte solange hier, ich schließe den Raum auch ab.“ Ich nickte, und die Tür schloss sich. Ich ging zum Fenster, riss es auf und atmete erstmal tief ein, mein Herz pochte immer noch wie verrückt. Ich flüsterte: „Verdammter Georgie, alles wegen Dir!“

Ich hatte Angst, das Handy war noch in meiner Zelle.
 

LadyRavenous

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Ich bin schon auf das nächste Kapitel gespannt :T

So wie wieder einmal die Spannung stieg, dürfte es interessant werden.
 

BeSure

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@LadyRavenous

Vielen Dank :)

@Trolling Stone
Ja, ich muss zugeben, dass ich den Leser nicht enttäusche will und stets versuche die Kapitel mit einem Cliffhanger zu beenden :P

Aber dafür gleich das nächste Kapitel :)

Kapitel 40 - Ich nix Almanci

Tarek hatte mich gestern mal wieder gebeten, das Handy dem Mülleimer in der Besenkammer zu entnehmen und es ihm während des Umschlusses zu überreichen, damit er abends telefonieren konnte. Allerdings überlegte er sich anders, als ich ihm das Handy übergeben wollte: „Emre, ich brauche es doch nicht. Behalte es“, sagte er mir, während der Beamte alle Häftlinge wieder in ihre Zellen schloss. Ich hatte keine Gelegenheit, das Handy in die bereits abgeschlossene Besenkammer zu bringen und musste es gezwungenermaßen eine Nacht in der Zelle behalten. Ich hatte die ganze Nacht hindurch Angst, dass Beamte jeden Augenblick zur Zellenkontrolle erscheinen würden.

Dennoch hatte ich am nächsten Morgen versäumt, das Handy wieder in das Versteck zu bringen.

Da stand ich nun im Freizeitraum, zwei Beamte stellten meine Zelle auf den Kopf und ich malte mir aus, welche Konsequenzen das für mich haben würde. Auf meine Strafe würde es sich nicht auswirken, dessen war ich mir bewusst. Sehr wohl aber auf meine „gute Führung“, die meine vorzeitige Entlassung bedingte, aber auch besondere Maßnahmen wie bei Kartal würden mich erwarten. Und das, obwohl ich das Mobiltelefon kein einziges Mal für eigene Zwecke verwendet hatte, wobei mir natürlich zugutekam, dass die ganzen Türken aufgrund dieses Opfers gut zu mir waren. Immerhin hatte ich das wertvollste Gut in der Haft, es lag in meiner Verantwortung, ich hätte das Gerät jederzeit verschwinden lassen können. Doch der Vorteil, den ich aus der ganzen Sache zog, war gewiss nicht das Risiko mit den Konsequenzen wert. Vielmehr lag es an meiner schwachen Durchsetzungsfähigkeit. Das Wort „Nein“ fiel mir unheimlich schwer.
Die Zellentür zum Freizeitraum öffnete sich. Der Beamte, der meine Zelle kontrolliert hatte, stand vor der Tür: „Herr Ates, kommen Sie mal mit.“ Mein Kopf lief erneut rot an, ich konnte jeden Pulsschlag spüren und meine Beine wurden zu Wackelpudding. Als ich in meine Zelle eintrat, fand ich sie ordentlich auf. Meine ganzen Utensilien waren so aufgestellt wie zuvor. Meine Kleider waren zusammengefaltet auf meinem Bett und auch sonst sah es nicht so aus, als hätte es eine Zellenkontrolle gegeben. Dass es anders geht, hatte ich schon bei anderen Zellendurchsuchungen miterlebt: Die Kleider werden umhergeworfen, die Lebensmittel durcheinandergewürfelt, die Bettwäsche rausgerissen, die Matratzen vom Bett genommen und das Schlimmste daran ist die ausbleibende Entschuldigung beim Häftling. Die kommt nicht einmal, wenn nichts bei ihm gefunden wird.

Der Beamte begann zu sprechen, ich hielt den Atem an.

„Also Herr Ates…ich arbeite ja in der Kammer, und leider muss ich Ihnen sagen, dass Sie einen Pullover zu viel besitzen. Man darf nur 2 Pullover haben, sie haben aber 3 im Schrank!“ Der Beamte schaute mich milde vorwurfsvoll an. Ich war so erleichtert, dass mir fast Tränen aus den Augen geflossen wären, ich wollte ihn sogar vor Freude fast umarmen. „Herr Salz, das tut mir sehr leid. Ich weiß auch nicht, wie das passiert ist. Aber wissen Sie, es ist so kalt in der Zelle und im Hofgang auch… Sie können den Pullover hier aber mitnehmen.“ Ich hätte ihm alle drei Pullover mitgegeben, hätte er das verlangt – als Geste meiner Dankbarkeit, dass er nicht fündig geworden war. Er seufzte: „Na gut, Herr Ates, behalten Sie ihn einfach. Aber sagen Sie es den anderen bitte nicht.“ Ich bedankte mich herzlichst bei ihm für diese Großzügigkeit – wenn er nur gewusst hätte, wofür ich ihm noch dankbar war – und ging mit ihm zur Essensausgabe. Ich hatte wohl schon lange eine solche Freude nicht mehr gespürt. Während des Umschlusses und der Pokerrunde erzählte ich von dem Vorfall, während alle mir aufmerksam zuhörten. Tarek schenkte mir eine seiner Milka-Schokoladen als Entschuldigung, was ich immerhin als eine nette Geste betrachtete. Ich beschloss, das Handy nur noch so herauszugeben, dass ich im worst case das Gerät wieder verstecken konnte. Es war seltsam. Das Handy, welches in einer ungeöffneten Tabakdose versteckt war, hatten die Beamten nicht finden können. Schon damals, als sich das Gerät bei Kartal in der Zelle befunden hatte, wurde der Beamte nicht fündig. Dabei hatten sie Detektoren, die im Normalfall darauf reagierten.

Die Tage vergingen, an Weihnachten kam der Pfarrer und beschenkte uns mit Schokolade, zu Silvester gab es nichts. Alle beschwerten sich, dass es keinen besonderen Umschluss zu Silvester gab und wir uns an Neujahr in den eigenen vier Wänden einschließen mussten. Ich allerdings hatte kein Problem damit. Bisher hatte ich Silvester nie draußen gefeiert, geschweige denn überhaupt darüber nachgedacht, es zu feiern. Jedes Jahr war ich an Silvester in der Moschee, entweder als Schüler, der dort über Weihnachten und Neujahr übernachtete, oder auch nur zum Gebet. Der Drang, raus und feiern zu gehen gingen bei mir gegen Null. Ob Silvester war oder nicht, machte für mich keinen Unterschied – ich erkannte das Besondere daran einfach nicht. Dennoch grübelte ich über das vergangene Jahr, setzte mir Vorsätze für das kommende Jahr und hoffte auf ein tolles 2014.

Das erste große Ereignis im neuen Jahr war allerdings alles andere als berauschend. Ein Brief vom Landratsamt war eingetrudelt. Schnell alarmierte ich den Beamten und bat um ein Gespräch mit dem Sozialarbeiter. Zum Glück war Herr Nils da, der mir kurzfristig ein Gespräch mit dem Sozialarbeiter arrangieren konnte. Ich trat in das Büro des Sozialarbeiters ein. „Was kann ich für Sie tun?“ fragte er. Am liebsten hätte ich ihm eine Backpfeife gegeben: „Ich habe hier einen Brief vom Landratsamt, meine deutsche Staatsbürgerschaft habe ich laut des Schreibens verloren, weil ich die türkische nicht abgegeben habe und das 23. Lebensjahr vollendet habe!“ Ich war sauer, weil ich ihn schon vor Monaten darauf angesprochen hatte und er nur gemeint hatte, während der Haftzeit stünde solcher Papierkram still. „Ach herrje, und Sie haben ihren türkischen Pass nicht abgegeben?“ wagte er zu fragen. „Doch! Nur war das Anfang November und der Antrag liegt irgendwo in Ankara, da habe ich noch keinen Bescheid bekommen.“ Der Sozialarbeiter überlegte kurz: „Dann müssen Sie den Antrag sofort zurückziehen! Am Ende sind Sie noch staatenlos, dann haben wir ein großes Problem.“ Daran hatte ich noch gar nicht gedacht, sofort rief er meine Eltern an und unterrichtete sie vom Vorfall.

„Also Herr Ates, wie Sie gerade gehört haben, werden sich Ihre Eltern darum kümmern und den Antrag für die Abgabe ihres türkischen Passes zurückziehen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als zu warten und zu hoffen.“ Damit wollte ich mich allerdings nicht abfinden, ich wollte unbedingt den deutschen Pass: „Im Fernsehen habe ich gesehen, dass die neue Koalition in ihrem Koalitionsvertrag festgelegt hat, dass türkische Staatsbürger auch die doppelte erhalten können. Trifft das nicht auch auf mich zu?“ Die Antwort, die er mir gab, war genauso unqualifiziert, wie die, die er mir vor Monaten bereits gegeben hatte: „So ein Gesetz muss erstmal rechtskräftig werden, das dauert Monate. Sie können sich doch dann nach Ihrer Entlassung darum kümmern.“ Ich fand mich mit dem Gedanken ab, mich nach der Haft um meine deutsche Staatsbürgerschaft zu kümmern. Doch musste ich erkennen, dass die Auskünfte des Sozialarbeiters nichts taugten. Savas meinte, dass ich ja jetzt kein Almanci mehr sei – so bezeichnen die Türken in der Türkei die Türken aus Deutschland: „Du bisch ja jetzt ein richtiger Türk!“ meinte er scherzhaft, doch leider hatte er wohl Recht. Ob das von Vorteil war, bezweifelte ich, doch den wirklichen Nachteilen war ich mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst gewesen.

Vor allem jedoch war ich mir nicht bewusst, dass eine Vorstrafe bei der Einbürgerung mehr als nur ein Problem darstellen würde.
 

BeSure

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Kapitel 41 - Veränderungen

Ein neuer Tag im neuen Jahr brach an, und alles schien wie immer zu sein: Ich machte mich frisch, meine Zellentür ging auf, ich machte mich auf den Weg zu den Mülleimern und bereitete mich auf die Anträge vor. Schließlich fand ich mich vor der ersten Zellentür mit meinen Reiniger-Kollegen wieder. Doch diesmal war nur Yilmaz dabei, der Kroate schien seltsamerweise noch zu schlafen. „Soll ich den anderen Reiniger rufen?“, fragte ich den Beamten, als er anfing, die erste Zellentür zu öffnen. „Nein, der hat heute seine Gerichtsverhandlung, er arbeitet heute nicht.“ Ich beneidete ihn. Jedes Mal, wenn sich eine Zellentür öffnete, betete ich, dass die Fenster über Nacht gekippt worden waren. Andernfalls kam ein strenger Geruch aus der Zelle, die mutigen Beamten mussten dann immer in die Zellen laufen und sinnbildlich auf Überlebende hoffen, so sehr stank es dann. Doch heute duftete es merkbar süßlich durch den ganzen Gang. Ich hielt es erst für einen Streich meiner Nase, doch der Geruch wurde immer stärker: „Riecht es hier nach Parfum?“, fragte ich Yilmaz. Seiner Mimik konnte ich entnehmen, dass er es ebenfalls roch. „Wir haben eine neue Kollegin. Sie arbeitet im unteren Stockwerk“, informierte uns der Beamte lächelnd. „Was? Und ihren Duft kann man bis hierher riechen?“ Ich war entsetzt, der Geruch war wirklich extrem.

Die Tage vergingen und ich realisierte, dass die Beamtin täglich nach diesem süßlichen Duft roch. Sie unterzog sich wohl tagtäglich einer Parfumdusche. Eine enorme Betonung ihrer Weiblichkeit, die es nicht alle Tage in einer JVA voller Männer gab. Es wurde immer offensichtlicher, dass ein angenehm-femininer Geruch unter all diesen nach Schweiß stinkenden Häftlingen eine enorme Wirkung auf die Männer hatte. Sie verdrehte nur aufgrund dieses penetranten Parfums den Kopf – dennoch, sie war sehr nett und zuvorkommend, eine Art weibliche Version von Herr Nils. Ganz anders als Herr Winter, der mir einen Topfschrubber in die Hand drückte und mir befahl, die Ränder des Küchenbodens zu schrubben. Ich verstand zwar, dass er der Nachfolger des Bereichsdienstleiters werden wollte – doch sah ich nicht den Sinn darin, die Häftlinge zu diesem Zweck strenger zu behandeln, als es andere Beamte taten. Er war der meistgehasste Beamte unter den Häftlingen. Vielleicht war dies ja der Schlüssel zum beruflichen Aufstieg in einer JVA? Doch die sympathischen Beamten waren glücklicherweise in der Mehrzahl. So fiel mir ein etwas kräftigerer Ossi-Beamter auf, der einige Witze auf Lager hatte.

Weniger witzig war es jedoch, als er mir mitteilte, dass wir in der Vergangenheit mit einem Kinderschänder gegessen hatten. „Sie lügen doch! Wann bitte haben wir mit einem Pädophilen gegessen?“, fragte ich entsetzt. „Ja, er ist auch Türke. Ihr habt ihn in eure Gruppe aufgenommen und mit ihm gemeinsam gegessen. Jetzt ist er in Strafhaft in einer anderen JVA“ er verzog keinerlei Mimik, als er das sagte. Nach einem Scherz sah es nicht aus, und wenn, wäre es ein miserabler gewesen: „Wer? Wer war es? Wieso haben Sie uns nicht gewarnt?!“ In mir stieg bei dem Gedanken eine starke Übelkeit auf. „Es ist schon eine Weile her, dass er hier war. Ich durfte und darf dir nicht sagen, wer es war.“ Als ich meinen Türken davon erzählte, grübelten wir lange darüber, wer es wohl gewesen sein könnte, doch kamen wir zu keinem Ergebnis.

Die Tage vergingen, und ich ging der üblichen Aufgabe der Mittagessensausgabe nach, als plötzlich ein Alarm ertönte. Der Beamte schloss uns sofort in die Zellen ein und rannte davon. Etwa 10 Minuten später öffnete er die Zellentür und fuhr mit der Essensausgabe fort. Den Grund für den Alarm nannte er leider nicht, doch das Gerücht verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter den Häftlingen. „Der Ossi-Beamte hat einen Häftling in den Freizeitraum gepackt und auf ihn eingeschlagen! Anscheinend soll der Häftling aus nichtigen Gründen immer wieder einen Notruf getätigt haben, und nach einer verbalen Auseinandersetzung zwischen ihm und dem Ossi-Beamten, ging es zur körperlichen über“, erzählte mir Tayfun während des Hofgangs. In der Tat war in dem Zeitraum lange Zeit nichts vom Ossi-Beamten zu hören oder sehen gewesen.

Mittlerweile hatte ich mich – den Sportbeamten sei Dank – im Volleyball stark verbessert. Sie fungierten wie richtige Trainer für mich. Stets hatten sie gute Tipps für sportliche Höchstleistungen parat und motivierten einen, in den jeweiligen Disziplinen besser zu werden. In der restlichen Zeit sah ich die Sportbeamten fast nie in Beamtenbekleidung, ich vergaß tatsächlich nahezu, dass es sich bei ihnen um Beamte handelte. Besonders beim Spiel im Team traten sie nie als die sonst streng dreinblickenden Beamten auf – ganz im Gegenteil: sie selbst spielten mit Begeisterung beim Volley – und Fußball mit.

Während sich in den nächsten Wochen also einiges bei den Beamten getan hatte, blieben wir Häftlinge nicht von den Veränderungen verschont. So wurde der kroatische Reiniger entlassen, sein Nachfolger war wieder ein türkischer Häftling. Mert war sein Name, und ein besonderes Merkmal war, dass er aufgrund der Tatsache, dass eines seiner Beine kürzer war als das andere, humpelte. Nun waren wir ein türkisches Reinigertrio. Interessanterweise sprach mich ein Beamter mal persönlich darauf an: „Ist schon schwierig, mit den anderen beiden Reinigern, oder?“, wollte er von mir wissen. Ich blickte fragend drein: „Wieso denn?“ Er grinste: „Naja, mit zwei Türken ist es sicherlich nicht ganz leicht.“ Erst begriff ich nicht, auf was er hinauswollte, und antwortete prompt: „Ich bin doch auch Türke, was für ein Problem sollte ich da haben?“ Nun war er der Verdutzte: „Sie sind Türke?!“ Ich nickte. „Ich hatte jetzt irgendwie gedacht, Sie wären Deutscher“, meinte er. Meine schwarzen Haare, die braunen Augen und mein ab und an auftretendes Nuscheln schienen ihm wohl nicht aufgefallen zu sein.

Das Türkentrio blieb allerdings nicht lange bestehen. Obwohl Mert als Reiniger einige Freiheiten hatte, war er nur am Meckern und drohte immerzu, seine Mittäter zu verraten. Das war wohl auch der Grund, dass er Ende Januar an seinem ersten von drei Verhandlungstagen entlassen wurde. Wir hatten denselben Anwalt, weshalb mein Anwalt damit prahlte, Mert die Freiheit verschafft zu haben. Da ich aber die genauen Hintergründe aufgrund der täglichen Gespräche mit Mert kannte, wusste ich, dass mein Anwalt da gar nichts großartig machen musste. Ich war sauer auf ihn, mal wieder enttäuscht und wollte jemand Starkes haben, der für mich einstand. Somit entschied ich über die letzte strategische Veränderung: „Vater“, platzte ich eines Tages heraus, „kann ich bitte einen Wahlverteidiger haben? Die Pflichtverteidiger bringen gar nichts! Einer hier hat mir einen Anwalt empfohlen, der soll richtig gut sein.“ Mein Vater willigte ein. Er wollte wohl später nicht angeschuldigt werden, keinen Anwalt für die Entlassung seiner Söhne finanziert zu haben: „Dein Anwalt schläft sowieso immer, wenn ich den besuche. Ich glaube, der ist bald tot“, meinte mein Vater nur trocken. Ich leitete alle weiteren Schritte für einen Verteidigerwechsel ein und wartete auf den ersten Termin mit dem neuen Anwalt.

Extrem erfreut war ich, als Anfang Februar ein Brief mit meinen Verhandlungsterminen eintrudelte. Sage und schreibe 7 Verhandlungstermine waren angesetzt, Ende Februar ging es bereits los, enden sollte es am 05. April 2014. War dies der Tag meiner Entlassung? Ich konnte mir nicht erklären, worüber wir in 7 Tagen verhandeln sollten, doch es waren einige Zeugen geladen. Unter anderem drei Geschädigte, davon einer, der Bahntickets gekauft hatte und zwei, deren Kreditkarten benutzt worden waren. Auch drei BKA-Beamte waren als Zeugen geladen. Die beiden, die mich verhört hatten, und einer, der von der IT war. Sogar von der Deutschen Bahn würde ein Vertreter als Zeuge erscheinen. Dann natürlich wir drei Angeklagten. Das war genug Stoff für mein Kopfkino, bis es dann endlich Ende Februar losging.

Wie ich bereits erwähnte, gab es unter den Häftlingen ebenfalls große Veränderungen. Bisher hatte ich von zwei größeren Gruppierungen gehört, den Black Jackets und den Red Legions. Es waren jedoch nur einzelne Mitglieder der Gruppierungen in unserer JVA, und wenn, dann getrennt voneinander. So waren die Red Legions meist im 1. Stockwerk zu finden, und jene von den Black Jackets im 2. Stockwerk. Im Hofgang konnte man allerdings keine Spannung spüren, obwohl das ja eigentlich rivalisierende Banden sein sollten. Als dann aber Anfang Februar eines Tages der Beamte kam und meinte, ich solle 5 Zugangspakete bereitstellen, war ich verwundert über die hohe Anzahl. Schnell stellte sich heraus, dass es sich dabei um reine Black Jackets Mitglieder handelte. Es gab eine große Verhandlung, in der auch Tayfun involviert war, und in der es wohl um die Black Jackets ging. Die Mittätertrennung wurde allem Anschein nach aufgehoben, womit alle Angeklagten nach Schwäbisch Hall verlegt wurden. Schnell bemerkte ich, wie Tayfun sich veränderte. Er fühlte sich viel stärker als zuvor, mit den Red Legions Häftlingen hatte er jedoch bisher nie Auseinandersetzungen gehabt. Doch jetzt musste er, wohl oder übel, seiner Gang das Gegenteil beweisen.

„Jungs, das ist Emre! Der ist ein richtig stabile Junge! Wir müssen den aufnehmen!“ Tayfun packte mich während des Hofgangs an der Schulter und zeigte mich seinen Leuten vor, so als würde ich gerne zur Gruppe gehören wollen. Diese zeigte sogar Interesse an mir, als ich von meinen Taten erzählte. Natürlich spielte dabei auch das versteckte Handy eine große Rolle. Ich hingegen hatte Angst, mit ihnen in Verbindung gebracht zu werden. Es würde sicher Nachteile bei meinen bevorstehenden Verhandlungen nach sich ziehen oder gar in irgendwelche Haftbeurteilungen resultieren. Doch gab es ein noch viel größeres Problem: Die Nachfrage nach dem Handy war gewachsen. Tayfun wollte es haben, Tarek wollte es haben, Kartal ebenfalls, da hinzu kamen die ganzen Black Jackets Mitglieder, und da unter anderem deren Anführer. Während diese Kandidaten sich in der Freizeit um das Handy stritten und ich jedes Mal das Handy wieder einsammeln musste, ohne wirklich zu wissen, wer es denn nun hatte, gab es noch einen weiteren Risikofaktor: Ein Albaner wurde von Stammheim nach Schwäbisch Hall verlegt. Dort war er bereits Reiniger gewesen, weshalb er sofort den freien Reinigerposten bei uns übernehmen durfte. Mit seinem Landsmann Tarek verstand er sich gut und auch Kartal war ein alter Kollege aus Stammheim-Zeiten von ihm. Das bedeutete, dass der neue Albaner-Reiniger auch öfter Zugang zu dem Handy hatte. Und der Bedarf war immerhin groß genug: er hatte eine Freundin.

Es war wie Russisch-Roulette, irgendjemanden würde es sicherlich treffen. Ich hoffte, bis zu meinem Urteil ungeschoren davon zu kommen und war dementsprechend aufgeregt, als wir Reiniger einmal in unsere Zellen eingesperrt wurden und draußen lauter Beamte zu hören waren. Das Handy befand sich in der Mülltonne in der Besenkammer und ich hatte Angst, dass das Versteck aufgeflogen war. Die Tür ging auf, und ein grinsender Beamte stand vor mir, doch sonst war nichts. „Ähm, wieso haben Sie uns denn alle eingeschlossen?“ fragte ich. „Das müssen Sie nicht wissen“, meinte er und grinste noch breiter. Ich dachte mir nicht viel dabei, abends erwähnten der Albaner und ich das kurz in der Kochgruppe, doch keiner schenkte dem Vorfall wirkliche Beachtung.

Es war nun fast Ende Februar, meine Verhandlungen würden beginnen. Meinen neuen Anwalt bzw. vielleicht Anwältin durfte ich auch bereits kennen lernen. Leider meinte sie, dass aufgrund meines frühzeitigen Geständnisses eigentlich nicht mehr viel zu machen wäre, sie aber ihr Bestes geben würde. Sie sah wenigstens nach einer qualifizierten Anwältin aus und machte keine leeren Versprechungen: „Sehen Sie, Herr Ates: Laut Strafgesetzbuch in diesem Paragraphen erwartet Sie eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren. Wenn Sie allerdings wegen bandenmäßigen Betrugs verurteilt werden, fängt die Freiheitsstrafe für Sie als Kopf der Bande bereits bei fünf Jahren an. Wir müssen also alles daransetzen, dass Sie nicht als Bande verurteilt werden.“ Ich war sehr froh, dass es endlich mal jemanden gab, der seine Aussagen auf Gesetzen stützte, das hatte für mich Hand und Fuß. Doch war ich umso angstvoller, dass mich nun wirklich mehr als fünf Jahre erwarten könnten. Eine Horrorvorstellung schlechthin, mit der meine Hoffnung auf Freiheit in weite Ferne rückte. Immerhin wurde uns in der Anklageschrift in mehreren Fällen bandenmäßiger Betrug vorgeworfen. „Ab drei Leuten zählt man nämlich als Bande“, schloss meine neue Anwältin ihre Ausführungen.

Das Treffen mit meiner Anwältin war erfrischend und informativ, dennoch brachte es mich ins Grübeln. Am nächsten Tag weckte mich – wie so oft in letzter Zeit – der süße Duft der neuen Beamtin. Wie jeden Tag gingen wir durch die Zellen. Als wir bei der Einzelzelle von Tarek ankamen, war ich sehr darüber überrascht, dass auf seinem Namensschild ein „BS – Besondere Sicherheitsmaßnahmen“ – Schild angebracht worden war. Er kam aus seiner Zelle heraus und sah so aus, als hätte man ihn regelrecht vergewaltigt. „Tarek, was ist los? Wieso hast Du besondere Sicherheitsmaßnahmen?“ Er blickte mich traurig an. Solch eine starke Persönlichkeit hatte ich noch nie so gebrochen gesehen. Ohne ein Wort zu sagen, verzog er sich wieder in seine Zelle.

Die Beamtin, stets von ihrer umwerfenden Duftwolke umgeben, schloss die Zellentür ab und blickte mich an: „Er wird ein eine andere JVA verlegt. Er wurde gestern Nacht mit einem Handy erwischt.“
 
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