• Hallo liebe Userinnen und User,

    nach bereits längeren Planungen und Vorbereitungen sind wir nun von vBulletin auf Xenforo umgestiegen. Die Umstellung musste leider aufgrund der Serverprobleme der letzten Tage notgedrungen vorverlegt werden. Das neue Forum ist soweit voll funktionsfähig, allerdings sind noch nicht alle der gewohnten Funktionen vorhanden. Nach Möglichkeit werden wir sie in den nächsten Wochen nachrüsten. Dafür sollte es nun einige der Probleme lösen, die wir in den letzten Tagen, Wochen und Monaten hatten. Auch der Server ist nun potenter als bei unserem alten Hoster, wodurch wir nun langfristig den Tank mit Bytes vollgetankt haben.

    Anfangs mag die neue Boardsoftware etwas ungewohnt sein, aber man findet sich recht schnell ein. Wir wissen, dass ihr alle Gewohnheitstiere seid, aber gebt dem neuen Board eine Chance.
    Sollte etwas der neuen oder auch gewohnten Funktionen unklar sein, könnt ihr den "Wo issn da der Button zu"-Thread im Feedback nutzen. Bugs meldet ihr bitte im Bugtracker, es wird sicher welche geben die uns noch nicht aufgefallen sind. Ich werde das dann versuchen, halbwegs im Startbeitrag übersichtlich zu halten, was an Arbeit noch aussteht.

    Neu ist, dass die Boardsoftware deutlich besser für Mobiltelefone und diverse Endgeräte geeignet ist und nun auch im mobilen Style alle Funktionen verfügbar sind. Am Desktop findet ihr oben rechts sowohl den Umschalter zwischen hellem und dunklem Style. Am Handy ist der Hell-/Dunkelschalter am Ende der Seite. Damit sollte zukünftig jeder sein Board so konfigurieren können, wie es ihm am liebsten ist.


    Die restlichen Funktionen sollten eigentlich soweit wie gewohnt funktionieren. Einfach mal ein wenig damit spielen oder bei Unklarheiten im Thread nachfragen. Viel Spaß im ngb 2.0.

Mein Hafttagebuch

BeSure

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Danke für den Tipp @Trolling Stone

Kapitel 49 - Mein Urteil: Die Taten und Beweiswürdigung - Teil 2/3
NGB-SPLIT 2/2

Beweiswürdigung

A. Die Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen beruhen auf den glaubhaften Einlassungen der Angeklagten, den erörterten Auszügen aus dem Bundeszentralregister und beim Angeklagten Emre Ates auch auf den erörterten Vorverurteilungen. Bei den Angeklagten Cem Ates und Adnan Polat basieren sie außerdem auf den ergänzenden Ausführungen der Jugendgerichtshilfe.

B. Die getroffenen Tatsachenfeststellungen beruhen im Wesentlichen auf den Einlassungen der Angeklagten. Bestätigt und ergänzt werden deren weitgehende Geständnisse durch die Angaben der ermittlungsführenden Beamten PHM Götner und POK Bauer, des Beamten Ziegler und des im Bereich der Konzernsicherheit der Deuschen Bahn AG tätigen Zeugen Schenk.

1. Der Angeklagte Emre Ates hat sich in der Hauptverhandlung umfangreich und äußerst detailliert zu den Tatvorwürfen eingelassen und gestand seine Beteiligung an den Taten 1. bis 137. in vollem Umfang ein. Auch die Feststellungen zu den ursprünglich in der Anklage mit den Ziffern 471. bis 528. belegten Fällen beruhen auf seine Angaben. Anschaulich und sehr ausführlich beschrieb er, wie er von der Methode erfahren und die Rahmenbedingungen zur Durchführung der Taten geschaffen habe. Dabei zog er zur Veranschaulichung und besseren Nachvollziehbarkeit seiner Angaben die Anlage I zur Anklage vom 20. November 2013 heran. Ohne sich zu schonen oder seinen – wesentlichen – Tatbeitrag in einem besseren Licht erscheinen zu lassen, erläuterte er, wie er erstmals auf die Methode der Bestellung und des Verkaufs von mit rechtswidrig erlangten Kreditkartendatensätzen bezahlten Online-Tickets gestoßen sei. In dieser Zeit sei seine finanzielle Lage bereits schwierig gewesen. Angehäufte Schulden habe sein Vater bezahlt. Sein Studium habe er in dieser Zeit abgebrochen. Der Angeklagte beschrieb ausführlich, wie er in einschlägigen Internetforen sog. Bankdrops, also mit Falschpersonalien eröffnete Konten, und fremde Kreditkartendatensätze, sog. Randoms, die wie er wusste auf nicht näher feststellbare erlang waren, erworben habe. Gleichzeitig erläuterte er stets die von ihm und in den Foren verwendeten Begrifflichkeiten. Anschaulich legte er dar, wie er seinem Freund, dem Angeklagten Adnan Polat die einzelnen Arbeitsschritte gezeigt und schließlich mit diesem gemeinsam wie unter Ziffer III. 1. bis 75. festgestellt auf arbeitsteilige Weise das angeeignete Wissen ab 27. Juli 2012 in die Tat umgesetzt habe, nachdem er den Laptop des Angeklagten Adnan Polat mit den für die Durchführung der Methode erforderlichen Programmen ausgerüstet habe. Anschaulich beschrieb der Angeklagte Emre Ates ihre arbeitsteilige Vorgehensweise. Einzig die Beschaffung der Bankkonten und der Kreditkartendatensätze habe allein er, der Angeklagte Emre Ates, übernommen. Wenn er während seiner Schicht bei der Daimler AG oder durch seine Urlaubsabwesenheit an der Durchführung der einzelnen Arbeitsschritte gehindert gewesen sei, habe allein der Angeklagte Adnan Polat Angebote bei mitfahrgelegenheit.de eingestellt und die Bestellungen abgearbeitet. Dies sei ihm recht gewesen.Auch nach der am 22. August 2012 erfolgten Durchsuchung in der elterlichen Wohnung habe er gemeinsam mit dem Angeklagten Adnan Polat weitergemacht. Er habe damals zwar befürchtet, festgenommen zu werden. Dies sei aber nicht passiert. Außerdem hätten die Ermittlungsbeamten seines Erachtens „falsch ermittelt“. Anschaulich legte der Angeklagte Emre Ates dar, dass er am Tag der Durchsuchung auch die Kontounterlagen für das Konto bei der Ziraat Bank, auf das sie hingearbeitet und das sie fortan „gefillt“ hätten, mittels eines am Haus der Großeltern angebrachten „toten Briefkastens“, eines sog. „Briefkastendrops“, erhalten habe.Sein Bruder Cem Ates habe zwar von dem auf die Falschpersonalien „Massimo Maresi“ eröffneten Konto bei der Deutschen Bank gewusst. Dass er aber gemeinsam mit dem Angeklagten Adnan Polat weitere Konten durch die beschriebene Methode „befüllte“, habe er von seinem Bruder geheim gehalten. Erst kurz vor den Herbstferien, als sein Bruder in dem Umschlag, den er in seinem Auftrag vom Angeklagten Adnan Polat habe abholen sollen, den Bargeldbetrag entdeckt habe, habe sein Bruder davon erfahren. Anschaulich beschrieb der Angeklagte Emre Ates, wie dieser ihn zur Rede und schließlich vor die Wahl gestellt habe, entweder mit dem Angeklagten Adnan Polat oder mit ihm, seinem jüngeren Bruder, weiterzuarbeiten. Offen gab er zu, dass er die Einnahmen aus dem Verkauf der Tickets auch nur ungern mit zwei Personen habe teilen wollen. Sein Bruder und der Angeklagte Adnan Polat hätten sich ohnehin nicht leiden können. Schließlich habe er deshalb seinem Bruder nachgegeben und dem Angeklagten Adnan Polat wahrheitswidrig vorgegeben, die EC-Karte des Kontos bei der Ziraat Bank sei eingezogen worden. Dieser habe dann seinen Laptop zurückgefordert. Er habe das Gerät vorübergehend aber noch bis 11. November 2012 weiterbenutzt und erst dann an diesen herausgegeben. Er habe dem Angeklagten Adnan Polat für dessen Tätigkeit insgesamt etwa einen Betrag in Höhe von 2.000 Euro gegeben und eine, er habe ihm weitere 2.000 Euro versprochen, da er ein schlechtes Gewissen gehabt habe.Fortan habe er, der Angeklagte Emre Ates, die Angebote eingestellt und die Bestellungen abgearbeitet. Sein Bruder Cem, der nach seinem Umzug nach Esslingen oft bei ihm gewesen sei, habe diese Aufgaben nicht übernommen, da er zu faul gewesen sei. Beim Abheben der Bargeldbeträge an Geldautomaten habe sein Bruder ihm aber geholfen. Er gab zu, dass dieser stets von allem gewusst habe und immer auf dem aktuellen Stand gewesen sei. Seinem Bruder sei bekannt gewesen, woher die Einnahmen stammten. Dieser habe auch sämtliche Arbeitsschritte gekannt und hätte diese an sich eigenhändig durchführen können, habe dies aber nicht getan. Ihm, dem Angeklagten Emre Ates sei es ja gelungen, hohe Einnahmen zu erreichen, es habe deshalb keinen Grund dafür gegeben, dass auch noch sein Bruder diese Aufgaben übernehme. Sein Bruder habe ihm bald den Laptop, den der Vater für diesen erworben hatte, zur Verfügung gestellt. Rasch habe er das Gerät – wie schon zuvor den Laptop des Angeklagten Adnan Polat – mit den für die Durchführung der Arbeitsschritte erforderlichen Programmen ausgestattet.Der Angeklagte Emre Ates bestätigte, dass er bei der Abfrage der für die Bestellung erforderlichen persönlichen Daten der Käufer auch ein Formular verwendet habe, dass sein Bruder – vor Beginn des Tatzeitraumes – erstellt habe, das der besseren Übersichtlichkeit der Daten gedient habe. Er habe dieses bereits verwendet, als sein Bruder in der Türkei gewesen sei.Seinem Bruder habe er einen Anteil von etwa 25 Prozent gegeben, mithin etwa 250 bis 300 Euro wöchentlich. Er meinte, er habe ihm dies aber nicht jede Woche gegeben.

2. Der Angeklagte Cem Ates hatte seiner polizeilichen Vernehmung am 25. Juni 2013, wie der Vernehmungsbeamte PHM Götner in der Hauptverhandlung berichtete, seine Tatbeteiligung im Wesentlichen noch abgestritten. In der Hauptverhandlung räumte der Angeklagte Cem Ates aber schließlich ein, er habe gewusst, woher das Geld auf den Konten gestammt und dass es sich um illegale Konten gehandelt habe. Er habe seinem Bruder den Laptop, den der Vater für ihn angeschafft hatte, zur Verfügung gestellt. Dieser habe das Gerät, wie er gewusst habe, mit sämtlichen für die Durchführung der Methode erforderlichen Programmen ausgestattet. Er, der Angeklagte Cem Ates, sei anwesend gewesen, als sein Bruder Angebote eingestellt und diese abgewickelt habe. Sein Bruder und er hätten darüber gesprochen, was Bahnstrecken und Texte anbelangte. Er habe auch oft neben diesem gesessen, wenn dieser Angebote eingestellt oder Bestellungen abgearbeitet habe. Der Angeklagte Cem Ates gab zu, er habe nachdem er nach den Herbstferien aus der Türkei zurückgekehrt sei, weitgehend das Geldabheben übernommen, was seinem Bruder recht gewesen sei, da dieser sich davor gefürchtet habe. Der angeklagte Cem Ates stritt aber ab, selbst Angebote bei mitfahrgelegenheit.de eingestellt und Bestellungen bei der Deutschen Bahn AG vorgenommen zu haben. Er begründete dies damit, dass er zu faul gewesen sei. Sein älterer Bruder habe dies zwar von ihm erwartet, er sei den Aufforderungen aber nicht nachgekommen. Sein Bruder habe dies letztlich akzeptiert, da er schließlich für das Geldabheben zur Verfügung gestanden habe. Der Angeklagte gab zu, er habe bereits von dem Konto, das auf die Falschpersonalen „Massimo Maresi“ eröffnet worden sei, gewusst und sei auch an den Aktivitäten seines Bruders in der Zeit von Anfang des Jahres 2012 bis etwa Mai 2012 beteiligt gewesen. Bald habe sein Bruder ihm damals alles erzählt und am Computer gezeigt, auch die entsprechenden Internetforen. Seinem Bruder sei es nicht unrecht gewesen, wenn er, der Angeklagte Cem Ates, ihm zugesehen oder er sich gar beteiligt habe. Der Angeklagte Cem Ates gab zu, er sei neugierig gewesen, seinem Bruder bei dessen Vorgehen zuzuschauen, ihm dieses auch abzuschauen und mitzuwirken, zumal er auch in finanzieller Hinsicht davon profitiert habe. Nach einigen Wochen habe er bereits gemeint, alles zu durchschauen und selbst durchführen zu können. Er habe versucht, es seinem Bruder gleichzutun und habe selbst Geld verdienen wollen. Sein älterer Bruder habe ihn daraufhin zur Rede gestellt, es sei zum Zerwürfnis zwischen den Geschwistern und zum Verlust der Bankkarte gekommen. Er, der Angeklagte Cem Ates, habe trotzig darauf reagiert und auch Andeutungen gegenüber der Mutter gemacht, die daraufhin eine Karte für ein anderes Konto zerschnitten habe. Sein älterer Bruder habe daraufhin die Zusammenarbeit mit ihm beendet. Der Angeklagte Cem Ates gab zu, er habe sich daraufhin mit anderen – einem „Flippi“, „dark“ und einem Dritten – zusammengetan. Jeder von ihnen habe „fillen“ und damit Geld verdienen wollen und Lohn für die jeweiligen Aktivitäten beansprucht. Keiner habe aber die Verantwortung tragen und die Organisation übernehmen wollen. Ihm, dem Angeklagten Cem Ates, sei es nicht gelungen, die Kontrolle und den Überblick zu behalten. Seines Erachtens hätten die anderen zu hohe Anteile von ihm gefordert. Am 10. Juli 2012 sei er dann in die Türkei geflogen. Immer wieder habe er zuvor gegenüber seiner Mutter Andeutungen über die kriminellen Aktivitäten seines Bruders gemacht. Der Angeklagte Cem Ates räumte ein, dass er von der Türkei aus, mit „dark“ Kontakt aufgenommen und für diesen ein Formular oder Programm erstellt habe. Dieses habe später auch sein Bruder Emre verwendet. Er habe während seines Urlaubs in der Türkei für „dark“ Einstellungen von Angeboten im Online-Portal www.mitfahrgelegenheit.de vorgenommen. Sein Bruder habe von seiner Tätigkeit für „dark“ gewusst und mit diesem über die Übergabe seines versprochenen Lohnes verhandelt. Der Angeklagte legte dar, dass er, als er am 13. September 2012 nach Deutschland zurückgekehrt sei, nicht geahnt habe, dass sein Bruder weitergemacht habe, erst recht nicht, dass dieser gemeinsame Sache mit dem Angeklagten Adnan Polat machen würde. Das Angebot seines Bruders, er solle den Angeklagten Adnan Polat kontaktieren, falls er Geld benötige, habe er aber gerne angenommen. Allmählich, als sein Bruder bereits nach Esslingen gezogen war, sei ihm aufgefallen, dass sein Bruder und der Angeklagte Adnan Polat auffällig viel miteinander zu tun gehabt hätten und er habe etwas vermutet. Erst aber als er den Bargeldbetrag in dem Umschlag, den er seinem Bruder habe bringen sollen entdeckt habe, habe er Gewissheit erlangt. Er sei überrascht gewesen, dass sein Bruder trotz der Durchsuchung weitergemacht habe und dann auch noch mit dem Angeklagten Adnan Polat, den er nicht leiden könne. Er gab zu, dass er daraufhin seinen Bruder gedrängt habe, die Zusammenarbeit mit diesem zu beenden. Sein Ziel sei gewesen, dass sein Bruder die Einnahmen mit ihm teile, nicht mit dem Angeklagten Adnan Polat. Seines Erachtens habe sein Bruder die Einnahmen ja nicht mit zwei Personen teilen können. Er habe deshalb mehr und mehr seinem Bruder gegenüber schlecht über den Angeklagten Adnan Polat gesprochen. Sein Bruder habe nachgegeben und daraufhin dem Angeklagten Adnan Polat eine Lüge aufgetischt und die Zusammenarbeit beendet.
Der Angeklagte Cem Ates räumte ein, dass er nach den Herbstferien, nachdem er aus der Türkei zurückgekehrt sei, mit seinem Bruder dergestalt zusammengearbeitet habe, dass er weitgehend die Bargeldabhebungen übernommen habe. Dies sei seinem Bruder recht gewesen, da dieser gerade vor dieser Aufgabe Angst gehabt habe. Dabei habe er einen alten Mofa-Helm verwendet. Sein Bruder habe unterdessen die Umgebung gesichert. Regelmäßig habe er bei den Abhebungen einen Anteil erhalten. Mehr habe er, der Angeklagte, Cem Ates, aber nicht getan. Sein Bruder habe zwar erwartet, dass er, wenn er sich schon häufig in dessen Wohnung aufhalte, selbst Angebote einstelle, während er die Universität besuchte. Er, der Angeklagte Cem Ates sei dem aber nicht nachgekommen. Er sei zu faul gewesen. Sein Bruder sei deshalb verärgert gewesen, habe es aber akzeptiert, da er schließlich für das Geldabheben zur Verfügung gestanden habe. Zunächst gab er noch an, dass er meine, auch Abhebungen im Oktober 2012 getätigt zu haben, korrigierte sich aber dahingehend, dass er entweder am 04. November oder am 09. November 2012 erstmals eine Bargeldabhebung vorgenommen habe.

Er habe von seinem Bruder einen Anteil von etwa 24 Prozent zum einen für das Geldabheben bekommen, aber auch dafür, dass er Stillschweigen bewahre. Er habe von seinem Bruder auch Geld eingefordert. Er habe sowohl, wenn er selbst Abhebungen vorgenommen habe, als auch, wenn er nur dabei gewesen sei, einen Anteil erhalten.

3. Der Angeklagte Adnan Polat räumte seine Beteiligung an den Taten – wie unter Ziffer III. 1 bis 75. festgestellt – ein. Offen beschrieb er, wie er zu der Zusammenarbeit mit dem Angeklagten Emre Ates gekommen sei, wie dieser seinen Laptop so eingerichtet habe, dass er an diesem sämtliche Arbeitsschritte habe durchführen können und wie sie die Methode arbeitsteilig umgesetzt hätten. Der Angeklagte Adnan Polat gab zu, er habe Angebote bei mitfahrgelegenheit.de eingestellt, Bestellungen von Tickets auf dem Online-Portal der Deutschen Bahn getätigt und diese an Reisende geschickt. Er habe auch in Absprache mit dem Angeklagten Emre Ates Kontakte via ICQ-Chats gepflegt, wenn sein Freund verhindert gewesen sei, und beispielsweise Kreditkartendatensätze reklamiert, wenn diese nicht funktionierten. Er selbst habe aber weder Bankkonten noch Kreditkartendatensätze gekauft. Diese Aufgaben habe ausschließlich der Angeklagte Emre Ates übernommen. Der Angeklagte Adnan Polat legte dar, dass es nur eine Zusammenarbeit zwischen ihm und dem Angeklagten Emre Ates gegeben habe. Es sei nie die Rede davon gewesen, dass sie zu dritt, also auch mit dessen Bruder, arbeiteten. Vor diesem hätten sie ihr Tun vielmehr verheimlicht. Der Angeklagte Adnan Polat beschrieb anschaulich, wie er mit dem Angeklagten Emre Ates seine berufliche Situation besprochen und diesen um Rat gefragt habe, ober nach Beendigung seiner Ausbildung einen angebotenen Arbeitsplatz annehmen solle oder, was er sich wünschte, die weiterführende Schule besuchen solle. Sein Freund habe ihm angeboten, ihm finanziell zu helfen und ihn in seinem Vorhaben bestärkt, das Erreichen der Fachhochschulreife in Angriff zu nehmen. So habe er sich dann dafür entschieden, ab Herbst 2012 das Berufskolleg zu besuchen und ab Ende Juli 2012 den ihm von seinem Freund angebotenen „Nebenjob“ übernommen. Als die Durchsuchung in der Wohnung der Familie Ates stattgefunden habe, habe sein Freund ihn damit beruhigt, dass diese nicht wegen ihrer Taten erfolgt sei. Nur wenige Tage später hätten sie mit der Bestellung von Online-Tickets weitergemacht. Wenn der Angeklagte Emre Ates durch seine Tätigkeit im Schichtbetrieb bei der Daimler AG verhindert gewesen sei, habe er, der Angeklagte Adnan Polat, die Bestellungen an seinem Laptop abgearbeitet. Auch als sein Freund urlaubsabwesend gewesen sei, habe er Angebote eingestellt und Ticket-Bestellungen getätigt. Er habe in dieser Zeit auch einen Bargeldbetrag in Höhe von 500 Euro vom Konto bei der Ziraat Bank an einem Geldautomaten abgehoben.Bald nach Rückkehr des Angeklagten Emre Ates aus der Türkei sei dieser nach Esslingen gezogen. Er, der Angeklagte Adnan Polat, aber diesem seinen Laptop mitgegeben. Am 04. Oktober 2012 habe er, der Angeklagte Adnan Polat, einen Autounfall gehabt. infolge dieses Erlebnisses habe er sich an diesem Tag zwar bereits vorgenommen gehabt, sein kriminelles Tun zu beenden, gelungen sei ihm dieses Vorhaben aber nicht. Am 05. Oktober 2012 sei er wieder bei einer Bargeldabhebung dabei gewesen. Schließlich habe ihm der Angeklagte Emre Ates Mitte oder Ende Oktober 2012 mitgeteilt, dass di Karte für das Konto bei der Ziraat Bank eingezogen worden sei. Dies sei ihm recht gewesen, denn er habe nun endgültig nicht mehr weitermachen wollen. Er habe seinen Laptop zurückgefordert, den er Anfang oder Mitte November 2012 schließlich zurückerhalten habe.Er meine, er habe einen Betrag in Höhe von 1.000 bis 1.500 Euro erhalten. Wenn in dem Protokoll seiner polizeilichen Vernehmung von 1.500 bis 2.000 Euro die Rede sei, sei dies nicht richtig. Die Vernehmungsbeamten hätten ihm aber gesagt, dass eine Korrektur nicht erforderlich sei. Der Angeklagte Emre Ates habe ihm versprochen, dass er noch einen weiteren Betrag in Höhe von 2.000 Euro bekommen sollte, tatsächlich habe er diesen aber nie erhalten.

4. Die Einlassungen der Angeklagten wurden durch die Ergebnisse der umfangreichen Ermittlungen, über die vor allem die ermittlungsführenden Beamten PHM Götner und POK Bauer ausführlich in der Hauptverhandlung berichteten, bestätigt und ergänzt.
Lediglich hinsichtlich der Einlassung des Angeklagten Adnan Polat betreffend den Betrag, den dieser vom Angeklagten Emre Ates für seien Tätigkeit erhalten haben will, widerlegten sie diesen. Anschaulich beschrieben beide übereinstimmend, dass der Angeklagte Adnan Polat bei seiner Vernehmung angegeben habe, er habe einen Betrag von 1.500 bis 2.000 Euro erhalten. Aufnahme in die Vernehmungsniederschrift habe nur gefunden, was dieser auch gesagt habe. Weder habe dieser später seine diesbezüglichen Angaben dahin korrigieren wollen, dass er nur einen Betrag in Höhe von 1.000 bis 1.500 Euro erhalten habe, noch hätten sie ihn in diesem Zusammenhang damit beruhigt, dass dies ohnehin keine Rolle spiele. Ergänzend führte in Bezug auf die als Anlage I zur Anklage vom 20. November 2013 geführte Liste – die in tabellarischer Form die Gesamtzahl und Umstände der vorgenommenen Fahrkartenbestellungen enthält – der ermittelnde Beamte Ziegler aus, dass er diese anhand eindeutiger Kriterien erstellt habe, sodass eine fehlerhafte Zurechnung von Bestellungen ausgeschlossen werden könne. Ausführlich legte er dar, dass er von den dort enthaltenen Daten die Nummern des Online-Tickets -sog. OLT -, die Kreditkartennummern, die Buchungszeiten, die IP-Adressen, die Originalverkaufspreise der Tickets, die Namen der Reisenden, die Reisedaten, die Routen, die bei den Buchungen verwendeten E-Mail-Adressen und Anschriften jeweils über ein zentrales Datensystem, das von der Deutschen Bahn AG in Verdachtsfällen mit Daten gespeist werde, erhalten habe. Lediglich den jeweils angegebenen Namen des angeblichen Kontoinhabers habe er aus den Angaben der Reisenden übernommen. Die in der Liste genannten Konten bei der Volksbank Kiel, der Ziraat Bank und der Postbank Hamburg habe er selbst ausgewertet und die gefundenen Ergebnisse in die Tabelle übernommen. Ergänzend fügte er an, dass, soweit weder ein vermeintlicher Kontoinhaber noch ein Konto eingetragen sei, dies verschiedene Gründe haben könne: Möglicherweise seien die Daten nicht bekannt oder zuordenbar, eine andere Person als der Reisende habe die Überweisung getätigt oder der Käufer des Tickets habe den Kaufpreis nicht gezahlt.
Nur wenn mehrere der genannten Daten sich entsprochen hätten, habe er einen Zusammenhang der Fälle hergestellt und diese in die Liste mit aufgenommen. Als Kriterien hätten die Kreditkartennummern, die Buchungszeiträume, die IP-Adressen, der angegebene Kontoinhaber und die Bankkonten, die reisenden, die Buchungs-Email-Adressen und die bei den Bestellungen angegebenen Anschriften gedient. Er habe nur die Fälle, bei denen so viele Kriterien übereinstimmten – etwa 51% oder etwa 4 oder 5 -, dass eine unstreitige Zuordnung möglich gewesen sei, in die Tabelle aufgenommen. Die Kammer hat keinen Zweifel an den ausführlichen und detaillierten Angaben der Beamten zu zweifeln. Insbesondere stehen sie in Übereinstimmung mit den Angaben der Angeklagten, vor allem mit denen des Angeklagten Emre Ates, der die Anlage I der Anklage als Grundlage und zur Veranschaulichung seiner Einlassungen herangezogen und deren Inhalt bestätigt hat. Im Übrigen bestätigte auch der Angeklagte Emre Ates, dass sein Freund Adnan Polat für seine Beteiligung einen Betrag in Höhe von 2.000 Euro erhalten habe.

5. Die unter Ziffer III. getroffenen Feststellungen dazu, bei wem letztlich die Vermögenseinbuße in Höhe des Originalverkaufspreises der jeweiligen Tickets eingetreten ist, beruhen auf den Angaben des im Bereich der Konzernsicherheit der Deutschen Bahn AG tätigen Zeugen Schenk. Er hat ausgeführt, dass es in der Regel bei nahezu jeder missbräuchlichen Verwendung von Kreditkartendaten bei der Bestellung von Online-Tickets betreffend dieses Verfahren zu einem Rückbuchungsvorgang zu Lasten der Deutschen Bahn AG gekommen sei. Dies sei in etwa 90% der Fälle der Fall gewesen. Lediglich in wenigen Fällen, in denen der berechtigte Kreditkarteninhaber die missbräuchliche Verwendung nicht oder erst nach Ablauf einer sechsmonatigen Frist, in der ein Rückbuchungsvorgang nur möglich sei, beanstandet habe, sei es nicht zu einem solchen Vorgang gekommen. Bei dem Bestellvorgang selbst wurde nur eine Bonitätsprüfung hinsichtlich der verwendeten Kreditkartendaten durchgeführt, eine Prüfung der Berechtigung zur Verwendung oder eine sonstige Plausibilitätsprüfung erfolgt nicht. Die Kammer hat keinen Anlass, an den ausführlichen Angaben des Zeugen zu zweifeln.

6. Dass die Angeklagten Emre Ates und Adnan Polat bei den Taten Ziffern III. 1. Bis 75. Und der Angeklagte Emre Ates bei den Taten Ziffer III. 76. bis 137. mit seinem Bruder, dem Angeklagten Cem Ates mittäterschaftlich gehandelt habe, ergibt sich aus Folgendem:

a. Nachdem sich der Angeklagte Emre Ates bereits spätestens im Frühjahr 2012 die einzelnen Arbeitsschritte der Methode angeeignet hatte und den Angeklagten Adnan Polat in die Details eingewiesen hatte, waren sie übereingekommen, fortan gemeinsam und auf arbeitsteilige Weise nach der unter Ziffer III. festgestellten Methode vorzugehen. Sie waren beide, wie sie übereinstimmend angaben, zum 27. Juli 2012 in der Lage, Angebote bei mitfahrgelegenehti.de einzustellen, die Bestellungen der Tickets auf dem Online-Portal der Deutschen Bahn AG zu tätigen und die Tickets anschließend an die Käufer weiterzuleiten. Beide erledigten sämtliche Arbeitsschritte auch in Ausführung ihrer vorherigen Absprache zur arbeitsteiligen Begehungsweise. Lediglich die Bankkonten und die fremden Kreditkartendaten erwarb allein der Angeklagte Emre Ates in einschlägigen Internetforen. Der Angeklagte Adnan Polat reklamierte allerdings auch nicht einsetzbare Kreditkatendatensätze oder pflegte Kontakte. War der Angeklagte Emre Ates verhindert, übernahm der Angeklagte Adnan Polat sämtliche Arbeitsschritte. Dabei waren beiden Angeklagten die Aktivitäten des jeweils anderen, die dieser eigenständig am Computer ausführte, bis zum 24. Oktober 2012 recht. Auch nach dem Umzug des Angeklagten Emre Ates war der Angeklagte Adnan Polat mit dem Vorgehen seines Freundes, dem er seinen Laptop zur Verfügung stellte, in dem Wissen, dass dieser das Gerät nutzte, um weitere Taten zu begehen, einverstanden, auch wenn er nach seinem Unfall am 04. Oktober 2012 kurzfristig daran dachte, aufzuhören. Er gab selbst zu, am 05. Oktober 2012 wieder bei einer Bargeldabhebung dabei gewesen zu sein. Anschaulich beschrieb auch der Angeklagte Emre Ates, dass sein Freund froh gewesen sei, wenn er die Bestellungen abgearbeitet habe, denn dieser habe ja trotzdem einen Anteil erhalten.
Auch bei Geldabhebungen begleitete der Angeklagte Adnan Polat seinen Freund. Auch wenn er nur in der Urlaubsabwesenheit des Angeklagten Emre Ates im Besitz der EC-Karte für das Konto bei der Ziraat Bank war und im Übrigen nur der Angeklagte Emre Ates, der die Konten auch erworben hatte, Zugriff hatte, ändert dies an der einvernehmlichen, arbeitsteiligen Begehungsweise der Computerbetrugstaten gegenüber der Deutschen Bahn AG nichts. Aus dem Taten profitierte der Angeklagte Adnan Polat im Übrigen in der Weise, dass er von seinem Freund für seine etwa drei Monate dauernde Beteiligung insgesamt einen Betrag in Höhe von 2.000 Euro erhalten hat. Weitere 2.000 Euro waren ihm versprochen worden, er erhielt dies aber nie.
Erst als der Angeklagte Emre Ates seinem Freund auf Drängen seines Bruders wahrheitswidrig vorgab, die Karte für das Konto bei der Ziraat Bank sei eingezogen worden, endete die Zusammenarbeit.

b. Die Angeklagten Emre und Cem Ates begingen die taten Ziffer III. 76. bis 137. mittäterschaftlich.

aa. Dass der Angeklagte Cem Ates auch selbst – wenn auch in seltenen Fällen und eher ergänzend – in der Zeit von 05. November 2012 bis 04. April 2013 Angebote einstellte und Bestellungen tätigte, ergibt sich aus Folgendem: Er bestritt innerhalb des Tatzeitraumes selbst Angebote auf dem Online-Portal www.mitfahrgelegenheit.de eingestellt oder Ticket-Bestellungen getätigt zu haben. Er habe hingegen in einem davorliegenden Zeitraum selbst aktiv mit dieser Methode gearbeitet. Zunächst sei er an den Aktivitäten seines Bruders beteiligt gewesen, anschließend, als er sich drei anderen zugewandt habe, mit denen er dieser Methode nachgegangen sei, hätten sie alle „fillen“ und damit Geld verdienen wollen. Zuletzt habe er während seines Türkeiaufenthalts im Sommer 2012 für einen anderen von dort aus Angebote eingestellt. Schließlich habe er, als er von der Zusammenarbeit seines Bruders mit dem Angeklagten Adnan Polat erfahren habe, ersteren gedrängt, diese zu beenden und stattdessen mit ihm weiterzumachen. Selbst Angebote eingestellt oder Bestellungen getätigt, habe er aber in dem ihm in diesem Verfahren vorgeworfenen Zeitraum nicht. Sein Bruder habe dies zwar erwartet, wenn er seine Freizeit in dessen Wohnung in Esslingen verbracht habe, er sei aber zu faul gewesen. Gleichwohl habe er einen Anteil von seinem Bruder erhalten, denn er habe ja für die von diesem gefürchteten Geldabhebungen zur Verfügung gestanden. Auch sein Bruder ließ sich dahingehend ein. Gleichzeitig gaben beide übereinstimmend aber auch an, dass der Angeklagte Cem Ates regelmäßig auf dem aktuellen Stand gewesen sei und sie sich über Strecken und Texte unterhalten hätten. Hinzu kommt der Inhalt einer Kommunikation via SMS, die die Brüder wie sie bestätigten, am frühen Morgen des 27. Januar 2013 geführt haben. Die Angeklagten bestätigten, dass es zunächst darum gegangen sei, dass der Angeklagte Cem Ates, der an diesem Abend gemeinsam mit einem anderen junge Frauen kennengelernt habe, seinen älteren Bruder mittels Kurznachrichten eindringlich darum gebeten habe, dass dieser seine Wohnung verlasse, damit er, der Angeklagte Cem Ates, sein Freund und die Frauen die Nacht dort verbringen könnten.
Am 27. Januar 2013 um 02:11 Uhr schrieb deshalb der Angeklagte Cem Ates, wie dieser auch bestätigte, an seinen Bruder:
„So ne gelgeneit kannst du mir nicht nehmen, denkst du treffen sich wan anders oder was, das sibd kahbas, bitte man, du kriegst die nächsten 2 zahlungen alles man bitte oder was anderes, bitte man ich tue alles du kannst mir nicht die gelgenheit nehmen man, nicht diese, steh zu deinem wort bitte, du musst Ja nich nach stgt. Einfach raus bitte, würdest du es machen wenn für dich auch eien rauspringt, bitte man bitte“. Der Angeklagte Emre Ates, der angab, dass ihm dies nicht recht gewesen sei, antwortete diesem darauf um 02:16 Uhr wie folgt:
„Junge du raffst es wohl nicht, ich muss morgen für die Prüfung lernen und Brauch meinen Schlaf. Geht doch zu den Tussen nach Hause oder dann Check nächste Woche einfach Tussen ab, heute kannste es aber vergessen, ich Schlaf jetzt muss früh aufstehen und für Prüfung mit Freunden lernen. Im Gegensatz zu dir bin ich jetzt nur wach weil ich gearbeitet und nicht wie du Feiern gehe. Die nächsten 2 Zahlungen werd sowieso ich nehmen weil ich nur arbeite und du eigtl heute den ganzen Tag arbeiten wolltest du spaßt! Schreib mir jetzt Auch nicht weiter und vergiss es einfach! Ich Brauch nichts von dir!“.
Die Brüder bestätigten zwar den Inhalt der Kurznachrichten, bestritten aber nach wie vor, dass der Angeklagte Cem Ates selbst Angebote einstellte und Bestellungen tätigte. Diese Kommunikation der Brüder legt zwar nahe, dass der Angeklagte Cem Ates am 26. Januar 2013 weder Angebote eingestellt noch Ticket-Bestellungen vorgenommen hat. Gleichwohl ergibt sich aus dem Inhalt der Nachrichten, dass sie sich über die konkrete Ausgestaltung einer zwischen ihnen geltenden Vereinbarung über die Arbeitsteilung und gerechte Verteilung der Einnahmen austauschten. Der Angeklagte Emre Ates machte seinem Bruder dabei gerade den Vorwurf, dass er nicht den ganzen Tag gearbeitete habe, obwohl er dies angekündigt habe. Dass es sich dabei lediglich um die stets erfolglose Aufforderung des älteren gegenüber dem jüngeren Bruder gehandelt habe, wie dies von dem Angeklagten Cem Ates vorgebracht wurde, ergibt sich daraus gerade nicht. Vielmehr belegt diese Kommunikation, dass zwischen den Brüdern eine Vereinbarung bestand, aus der sich für beide ergab, wer von ihnen zu welchem Zeitpunkt in welchem Umfang nach der beiden bekannten Methode arbeiten und wie die Aufteilung des Verkaufserlöses erfolgen sollte. Aus der Kommunikation ergibt sich gerade, dass eine arbeitsteilige Vorgehensweise und gleichmäßige Einnahmenverteilung an sich vereinbart war. Dass es sich bei der „Arbeit“, die der Angeklagte Cem Ates an diesem Tag nicht erledigt habe, wie sein Bruder ihm vorwarf, nur um Geldabhebungen gehandelt haben könnte, ergibt sich daraus ebenso wenig, obgleich der Angeklagte Cem Ates den Inhalt der Nachricht damit zu erklären versuchte. Insbesondere erfolgten die Abhebungen, wie der Angeklagte Emre Ates selbst darlegte, regelmäßig nur in den Abend- bzw. Nachtstunden, nicht während eines ganzen Tages. Im Übrigen wurde auch der Laptop, den der Angeklagte Cem Ates von seinem Vater erhalten und bald seinem älteren Bruder der das Gerät mit den zur Durchführung sämtlicher Arbeitsschritte erforderlichen Programmen, ausgestattet hatte, nach der Festnahme der Brüder im Jugendzimmer des Angeklagten Cem Ates in der elterlichen Wohnung in Stuttgart sichergestellt.

bb. Bei den Taten Ziffer III. 76. bis 137. Wirkten die Angeklagten Emre und Cem Ates mittäterschaftlich zusammen. Wenn auch der Angeklagte Emre Ates in dieser Zeit weit überwiegend die Aufgaben des Einstellens von Angeboten und Bestellens der Online-tickets übernommen hat, während der Angeklagte Cem Ates selten und nur ergänzend diese Aufgaben übernahm, hat doch der Angeklagte Cem Ates im Einvernehmen mit seinem Bruder überwiegend die von diesem gefürchteten Geldabhebungen vorgenommen und damit einen wichtigen Beitrag geleistet. Dies war dem Angeklagten Emre Ates gerade recht. Nur auf diese Weise gelangten sie an den Erlös aus dem Verkauf der Tickets. Der Angeklagte Emre Ates fürchtete sich aber, musste er hierfür die Anonymität des Internets verlassen, wenn der risikoreichste Teil der Taten, die Bargeldabhebung am häufig videoüberwachten Geldausgabeautomaten, zu erledigen war. Im Übrigen waren beide Angeklagte stets auf dem Laufenden über die Vorgänge, verständigten sich über Texte und Strecken. Beide waren nach ihren Angaben bereits von dem hier relevanten Tatzeitraum in die Methode verstrickt und kannten sich mit den einzelnen Arbeitsschritten bestens aus. Nachdem der Angeklagte Adnan Polat auf Betreiben des Angeklagten Cem Ates unter einem Vorwand aus der Zusammenarbeit entlassen worden war und sein Laptop zurückgefordert hatte, stellte der Angeklagte Cem Ates den von seinem Vater für ihn angeschafften Laptop seinem älteren Bruder alsbald zur Verfügung, der im Einvernehmen mit dem Angeklagten Cem Ates diesen mit allen für die Durchführung der einzelnen Arbeitsschritte erforderlichen Programme ausstattete. Auch das von dem Angeklagten Cem Ates bereits früher erstellte Formular verwendeten sie, um die Vorgänge effizienter zu machen. Wenn auch in dieser Tatphase, lediglich der Angeklagte Emre Ates im dauerhaften Besitz der EC-Karten war, ändert dies an der Bewertung nichts. Der Angeklagte Cem Ates, der in der Regel 250 EUR wöchentlich von seinem Bruder erhielt, aber auch Geldforderungen stellte, profitierte erheblich während des fünf Monate dauernden Zeitraums seiner Beteiligung.“

Gleich war es soweit – ein Jahr hatte ich auf diesen Moment gewartet. Doch meine Geduld würde wohl nicht belohnt werden. Ich realisierte erst jetzt: Wenn dieses Verfahren abgeschlossen war, erwarteten mich noch andere Ermittlungsverfahren. Die von mir vor Juli 2012 begangenen Taten wurden hier nämlich völlig außer Acht gelassen, doch ich war mir sicher, dass mich das noch einholen würde. Ebenso lief eine weitere Ermittlung gegen meinen Bruder und den Jungs „Flippi“ und „dark“, mit denen er etwas gerissen hatte.

Würde ich mich nun weiter gedulden müssen? War das Urteil hier erst der Anfang?
 

Brother John

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@BeSure
Postings direkt hintereinander werden vom Board automatisch zusammengeführt. Und dann hast du wieder das Längenproblem. Fürs Zusammenführen gibt es aber einen Timeout, deswegen ging es jetzt später doch wieder. Ich hab’s aber nicht im Kopf, wie lange der ist. Oder jemand anderes postet nach dir, dann wird auch nix zusammengeführt.
 

Trolling Stone

Troll Landa
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Nein, er hat die Beitragszusammenführung nach meiner PN-Anleitung einfach verhindert, indem er unten den Haken gesetzt hat. ;)
Sonst würde es 24h dauern.
 

BeSure

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Wahnsinn - ich habe 50 Kapitel erreicht!
Es ist nicht leicht diszipliniert zu bleiben und konstant weiterzuschreiben - Danke an alle meinen treuen Leser, die mich mit ihren Kommentaren immer wieder motiviert haben weiterzuschreiben!

Heute vor genau einem Jahr habe ich meine Freundin getroffen - seit jeher versüßt und versalzt sie Tag für Tag mein Leben! Sie ist das Beste was mir nach der Haft passiert ist.
Sie ist mein treuerster Fan und sorgt dafür, dass ihr mich wegen der Grammatik und Rechtschreibung nicht mehr kritisiert und lässt euch in dem Irrglauben, meine Schreibkünste hätten sich verbessert :P
Ein großes Dankeschön an meine Freundin - meine Askitom! Ich liebe Dich mein Stern - dein Ates

Ich freu mich schon darauf weitere Kapitel zu verfassen - auch wenn es wohl keine weiteren 50 mehr werden.
Bitte hört nie auf mich mit euren tollen Feedbacks und Kommentaren zu motivieren und zu pushen - ich habe das sowas von nötig xD

#50 – Mein Urteil: Rechtliche Würdigung und Strafzumessung - Teil 3/3
Rechtliche Würdigung

Der Angeklagte Emre Ates hat sich deshalb des gemeinschaftlich begangenen Computerbetruges im besonders schweren Fall in 137 Fällen gemäß §§ 263 a Abs. 1 Var. 3, 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1, 25 Abs. 2, 53 StGB (Taten Ziffer III. 1. bis 137.)
strafbar gemacht.

Der Angeklagte Cem Ates ist des gemeinschaftlich begangenen Computerbetruges im besonders schweren Fall in 62 Fällen gemäße §§ 263 a Abs. 1 Var. 3, 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1, 25 Abs. 2, 53 StGB (Taten Ziffer III. 76. 137.)
schuldig.

Der Angeklagte Adnan Polat hat sich wegen gemeinschaftlich begangenen Computerbetruges im besonders schweren Fall in 75 Fällen gemäß §§ 263 a Abs. 1 Var. 3, 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1, 25 Abs. 2, 53 StGB (Taten Ziffer III. 1. bis 75.)
schuldig gemacht.

Strafzumessung

1. Der Angeklagte Emre Ates war bei Begehung der Taten Ziffer III. 1. bis 84. 22 Jahre, bei den Taten Ziffer III. 85. bis 137. 23 Jahre alt und damit bei sämtlichen Taten Erwachsener. Das allgemeine Strafrecht ist anzuwenden. Die Kammer entnimmt die Strafe für sämtliche Taten dem Strafrahmen des § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1, der über § 263 a Abs. 1, Abs. 2 StGB Anwendung findet. Dieser sieht Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zehn Jahren vor.
Der Angeklagte Emre Ates handelte bei seinen Taten in dem Bestreben, sich durch die wiederholte Tatbegehung – über einen Zeitraum von mehr als acht Monaten hinweg – zur Aufbesserung seiner angespannten finanziellen Situation eine nicht nur vorübergehende, ganz erhebliche Einnahmequelle zu verschaffen und damit gewerbsmäßig. Er hatte bereits Schulden angehäuft, die der Vater beglichen hatte. Sein Studium hatte der Angeklagte abgebrochen. Er war in dieser Zeit ohne berufliche Perspektive. Die lukrative Geschäftsidee kam ihm in dieser Zeit gerade recht.

Die Regelwirkung ausschließende, mildernde Umstände, die die Anwendung des erhöhten Strafrahmens unangemessen erscheinen lassen, konnte die Kammer nach einer Gesamtbewertung aller Umstände nicht erkennen.

Der Angeklagte Emre Ates hat zwar in einem umfassenden, äußerst detaillierten Geständnis, das von Einsicht und Reue getragen war, seine Tatbeteiligung an den 137 Taten, wie unter Ziffer III. festgestellt, eingeräumt. Offen und aufrichtig gab er zu, wie er auf die Methode gestoßen war und die Voraussetzungen zur Durchführung der einzelnen Arbeitsschritte geschaffen hatte, und veranschaulichte, ohne seinen Tatbeitrag in einem besseren Licht erscheinen lassen zu wollen, wie er arbeitsteilig zunächst mit seinem Freund Adnan Polat, dann mit seinem Bruder Cem Ates die Methode in die Tat umsetze. Die Kammer übersieht dabei nicht, dass das Bestellsystem der Deutschen Bahn AG die Begehung der Taten leicht machte. Zu Gunsten des Angeklagten geht die Kammer auch davon aus, dass die Hemmschwelle im Laufe der Zeit spürbar herabsank.
In der Hauptverhandlung verzichtete der Angeklagte auf die Herausgabe der Tatmittel, nämlich der Computer PC Tower Medion, Laptop IBM Thinkpad und Joy-PC nebst Zubehör.
Die Folgen der Untersuchungshaft und der Verurteilung sind für das Leben des jungen Erwachsenen besonders erheblich. Seit etwa einem Jahr wird Untersuchungshaft gegen ihn vollstreckt. Er befindet sich erstmals in Haft und leidet unter der Trennung von seiner Familie. Hinzu trat die Ungewissheit über den Ausgang des Strafverfahrens. Dies und die Tatsache, dass er erstmals überhaupt und zu einer zu vollstreckenden, langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wird, macht ihn besonders strafempfindlich. Hinzu kommt die beträchtliche – auch die Familie des Angeklagten betreffende – Ungewissheit über die gegebenenfalls drohenden ausländerrechtlichen Konsequenzen (vgl. §§ 53 ff. AufenthG), nämlich die Ausweisung des heute 23 – Jährigen, der in Stuttgart geboren wurde, dort im Kreise seiner Familie aufgewachsen und verwurzelt ist, aus der Bundesrepublik Deutschland. Auch auf seine berufliche Zukunft kann sich diese Verurteilung erheblich auswirken.

Demgegenüber war zu sehen, dass der Angeklagte Emre Ates über acht Monate hinweg 137 und damit eine Vielzahl erheblicher Computerbetrugstaten, denen eine weitaus höhere Zahl an Ticketbestellungen zugrunde lag, begangen hat. Durch nichts hat er sich davon abhalten lassen. Strafrechtlich war der Angeklagte bereits zwei Mal einschlägig in Erscheinung getreten. Zuletzt war er am 08. Mai 2012 wegen Betruges zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Diese Verurteilung hat er sich nicht zur Warnung dienen lassen. Stattdessen beging er bald darauf – ab 27. Juli 2012 – die diesem Urteil zugrundeliegenden Taten. Auch die durch Einsatzkräfte der Bundespolizei Kassel im Rahmen eines anderen Ermittlungsverfahrens, aber wegen gleichgelagerter Vorwürfe durchgeführte Durchsuchung der elterlichen Wohnung schreckte ihn nicht ab.
Stattdessen erhielt der Angeklagte an diesem Tag die ersehnten Unterlagen für das Konto bei der Ziraat Bank und setzte unverdrossen wenige Tage später gemeinsam mit dem Angeklagten Adnan Polat die Tatserie fort. Der Angeklagte hat damit ein erhebliches Maß an krimineller Energie an den Tag gelegt. Nur durch die Festnahme war er zu stoppen. Durch die Taten verursachte er den erheblichen Schaden von 122.008 Euro.

Diese gewichtigen Umstände – insbesondere die kriminelle Energie, die der Angeklagte an den Tag legte, um sein Ziel zu erreichen, aber auch die Tatsache, dass er über acht Monate hinweg unbeirrt eine Vielzahl von Vermögensstraftaten beging, lassen – trotz des Umstandes, dass der angeklagte die Taten vollumfänglich und schonungslos einräumte – im Rahmen der Gesamtbewertung aller Umstände die Anwendung des Regelbeispiels des § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StGB nicht unangemessen erscheinen.

Eine Milderung der einzelnen Strafen gemäß § 46 b StGB – in der Fassung vom 01. September 2009 – in Verbindung mit § 49 Abs. 1 StGB kam nicht in Betracht. Die Taten des Angeklagten gemäß §§ 263 a Abs. 1 Var. 3, 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StGB sind zwar Straftagen im Sinne des $ 46 b Abs. 1 Satz 1, Satz 2 StGB mit einer im Mindestmaß erhöhten Freiheitsstrafe. Allerdings hat der Angeklagte Emre Ates nicht durch freiwilliges Offenbaren seines Wissens wesentlich dazu beigetragen, dass eine Tat nach § 100 a Abs. 2 StPO aufgedeckt werden konnte. War der Täter an der Tat beteiligt, muss sich sein Beitrag zur Aufklärung nach § 46 b Abs. 1 Satz 1 StGB über den eigenen Tatbeitrag hinaus erstrecken, § 46 b Abs. 1 Satz 1 StGB. Ein volles Geständnis zur Aufdeckung der eigenen Tatbeteiligung genügt nicht. Der Angeklagte hat zwar – wie von den Vernehmungsbeamten PHM Götner und POK Bauer in der Hauptverhandlung dargelegt – bei seiner polizeilichen Vernehmung am 03. und 04. Juni 2013 ausführliche Angaben zu der Methode und seiner Tatbeteiligung gemacht und insbesondere wichtige, die Ermittlungen wesentlich erleichternde Passwörter, vor allem den vielstelligen Computerzugangscode, preisgegeben. Er habe aber weder Angaben zu dem Angeklagten Adnan Polat gemacht, noch habe er einen Beitrag zur Aufklärung der Tatbeteiligung seines Bruders Cem Vielmehr habe der Angeklagte Emre Ates eine Tatbeteiligung seines jüngeren Bruders im Wesentlichen abgestritten.

Bei der konkreten Straffindung berücksichtig die Kammer zugunsten des Angeklagten sämtliche bereits bei der Wahl des Strafrahmens genannten Strafzumessungsgesichtspunkte, insbesondere die Tatsache, dass der Angeklagte die taten vollumfänglich und schonungslos eingeräumt und die Verantwortung übernommen hat. Bereits im Ermittlungsverfahren gestand er seine Tatbeteiligung offen und aufrichtig ein. Hinzu kommt, dass er die Ermittlungen durch die Preisgabe seiner Passwörter wesentlich erleichtert hat, wenn auch eine Milderung nach §§ 46 b Abs. 1, 49 StGB nicht in Betracht kam.
Demgegenüber standen die – ebenfalls bereits bei der Wahl des Strafrahmens genannten – Strafzumessungsgesichtspunkte, die gegen den Angeklagten sprachen, insbesondere der hohe, infolge der Vielzahl der Taten eingetretene Gesamtschaden.
Sie hat bei der Bemessung der konkreten Einzelstrafen außerdem die Anzahl der den Taten jeweils zugrundeliegenden Bestellungen und damit auch die Höhe des insoweit eingetretenen Schadens berücksichtigt.

Nach umfassender Würdigung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Strafzumessungsgesichtspunkte und unter Berücksichtigung des Unrechts- und Schuldgehalts der Taten hat die Kammer folgende Einzelstrafen erkannt:

Für die Taten Ziffer III.
17., 68., 80., 91., 114. und 199.:
jeweils dreizehn Monate Freiheitsstrafe,

für die Taten Ziffer III.
20., 26., 42., 44., 70., 82., 84., 85., 98., 101., 109., 126., und 135.:
jeweils elf Monate Freiheitsstrafe.

für die Taten Ziffer III.
5., 8., 9., 15., 16., 21., 30., 34., 35., 36., 43., 45., 46., 47., 48., 58., 63., 64., 65., 67., 69., 71., 72., 73., 74., 78., 79., 81., 87., 88., 89., 96., 97., 100., 102., 103., 110., 111., 120., 122., 125., 130., 134., 136. und 137.:
jeweils neun Monate Freiheitsstrafe.

und für die Taten Ziffer III.
1., 2., 3., 4., 6., 7., 10., 11., 12., 13., 14., 18., 19., 22., 23., 24., 25., 27., 28., 29., 31., 32., 33., 37., 38., 39., 40., 41., 49., 50., 51., 52., 53., 54., 55., 56., 57., 59., 60., 60., 61., 62., 66., 75., 76., 77., 83., 86., 90., 92., 93., 94., 95., 99., 105., 106., 107., 108., 112., 113., 115., 116., 117., 118., 121., 123., 124., 127., 128., 129., 131., 132. und 133:
jeweils sieben Monate Freiheitsstrafe

Bei der gemäß §§ 52, 54 StGB ausgehend von der Einsatzstrafe von 13 Monaten im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 2 StGB zu bildenden Gesamtstrafe hat die Kammer die für und gegen den Angeklagten Emre Ates sprechenden Strafgesichtspunkte erneut umfassend gewürdigt. Sie hat dabei berücksichtigt, dass die Hemmschwelle des Angeklagten im Laufe der Zeit spürbar herabgesetzt war. Wegen des engen persönlichen und situativen Zusammenhangs dieser Taten erscheint insgesamt ein äußerst straffer Zusammenzug gerechtfertigt.

Bei der Gesamtabwägung hält die Kammer deshalb die

Gesamtstrafe von drei Jahren neun Monaten Freiheitsstrafe

für tat- und schuldangemessen.“


Auch, wenn dieses Strafmaß zu erwarten gewesen war, konnte ich es in diesem Moment nicht fassen. Mein Herz machte unweigerlich einen Aussetzer. Ein Schaudern durchzog meinen kompletten Körper. Ich hörte ein sehr lautes Schluchzen – es kam von meiner Mutter. Mein Nacken fühlte sich derart steif an, dass ich mich nicht zu ihr drehen konnte. Ich hatte sie erneut enttäuscht. So sehr. Es waren Zahlen – lediglich Zahlen – doch aus dem Munde der Richterin bedeuteten sie die Welt für mich. Mir fiel es schwer zu realisieren, welche Auswirkungen diese Zahlen auf mich haben würden. Ich visualisierte mir die drei und die neun vor dem geistigen Auge, als die Richterin weiterlas:

„2. Der Angeklagte Cem Ates war bei Begehung der Taten Ziffer III. 76. bis 90. 17 Jahre alt und damit Jugendlicher im Sinne des Jugendgerichtsgesetzes. Jugendstrafrecht ist insoweit anzuwenden (§ 1 JGG). Er besaß zur Zeit dieser Taten die gemäß § 3 JGG erforderliche Strafreife. Am 14. Februar 2013 wurde er 18 Jahre alt. er war damit zum Zeitpunkt der Taten Ziffer III. 91. bis 137. Heranwachsender im Sinne dieses Gesetzes. Die Kammer bringt insgesamt Jugendstrafrecht zur Anwendung, denn er stand bei Begehung dieser Taten in seiner Persönlichkeit und Entwicklung noch einem Jugendlichen gleich.
Die Entwicklung des Angeklagten weist Brüche auf. Er erreichte zwar altersentsprechend, allerdings mit mäßigem Erfolg den Hauptschulabschluss. da er sich während des daran anschließenden Berufseinstiegsjahres unterfordert gefühlt und bereits einen Schulplatz an einer Werkrealschule innehatte, brach er diese noch vor den Sommerferien im Jahr 2012 ab, um eine Urlaubsreise zu Verwandten in die Türkei anzutreten. Er kehrte erst nach Beginn des neuen Schuljahres von seiner Urlaubsreise zurück und blieb fortan immer wieder dem Unterricht unentschuldigt fern. Seine schulischen Leistungen litten darunter. Er verbrachte stattdessen seine Freizeit mit Freunden, lebte in den Tag hinein und konsumierte Alkohol. Nachdem sein älterer Bruder nach Esslingen gezogen war, verbrachte er auch dort häufig seine Freizeit. Dem erzieherischen Einfluss seiner Eltern war er weitgehend entglitten. In dieser Zeit litt der junge Angeklagte hin und wieder unter Stimmungsschwankungen. Die Bearbeitung seiner Probleme lehnte er aber ab.

Die Einschätzung mangelnder Reife wird vom Vertreter der Jugendgerichtshilfe bestätigt.

Bei dem Angeklagten Cem Ates kommt gemäß §§ 17 Abs. 2 2 JGG nur die Verhängung von Jugendstrafe in Betracht.
Es liegen die Voraussetzungen der Schwere der Schuld gemäß § 17 Abs. 2 Alternative 2 JGG vor. Die fünf Monate dauernde Tatserie des Angeklagten wiegt schwer. In dieser Zeit war er an der Begehung von 62 Taten, denen eine Vielzahl von betrügerischen Bestellungen von Online-Tickets zugrunde liegen, beteiligt. Der durch diese Taten eingetretene Schaden ist erheblich, die kriminelle Energie enorm.
In den Taten des Angeklagten sind außerdem schädliche Neigungen solchen Gewichts zu Tage getreten, dass die Verhängung einer Jugendstrafe auch aus diesem Grund zur erzieherischen Einwirkung auf den Angeklagten erforderlich ist. Unter schädlichen Neigungen sind erhebliche, seien es anlagebedingte, seien es durch unzulängliche Erziehung bedingte Mängel zu verstehen, die ohne längere Gesamterziehung die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten in sich bergen, die nicht nur gemeinlästig sind oder dem Charakter von Bagatelldelikten haben. Sie können sich bereits in der ersten Tat zeigen. Es bedarf dann aber regelmäßig der Feststellung von Persönlichkeitsmängeln, die, wenn auch verborgen, schon vor der Tat entwickelt waren, auf diese Einfluss gehabt haben und weitere Straftaten befürchten lassen (BGHR JGG § 17 Abs. 2 schädliche Neigungen 3). Strafrechtlich ist der jung Angeklagte bisher nicht vorgeahndet. Er ist aber in einem Zeitraum von fünf Monaten mit der Beteiligung an der erheblichen Zahl von 62 Vermögensstraftaten, denen eine weitaus höhere Zahl an Bestellungen zugrunde liegen, aufgefallen. Er gab außerdem zu, dass es sich dabei nur um einen Teil der ihm anzulastenden Tatserie handelt. Der Angeklagte war dem erzieherischen Einfluss seiner Eltern in dieser Zeit bereits weitgehend entglitten. Er hatte erhebliche Fehlzeiten in der Schule angehäuft, verbrachte seine Freizeit mit seinem Bruder oder Freunden. Mit letzteren konsumierte er Alkohol und lebte in den Tag hinein. Zwar wurden die Taten des Angeklagten durch die allmählich sinkende Hemmschwelle begünstigt. Dies und die Tatsache, dass der heute 19-Jährige die Taten in weiten Teilen eingestanden hat, geben der Tatserie aber keinen solchen Ausnahmecharakter, dass die Ahnung mit milderen Mitteln ausreichend erscheint. Vielmehr belegen die gegen den Angeklagten sprechenden Umstände, dass bei ihm auch nach etwa einem Jahr vollzogener Untersuchungshaft nach wie vor Persönlichkeitsmangel vorliegen, die eine nachhaltige erzieherische Einwirkung durch Jugendstrafe auf ihn erfordern. Bis heute legt der Angeklagte, wenngleich er seine Beteiligung weitgehend eingestanden hat, eine eher bagatellisierende Einstellung gegenüber den eigenen Taten an den Tag. Durch eine Jugendstrafe muss nachhaltig erzieherisch auf ihn eingewirkt und ihm deutlich vor Augen geführt werden, dass er für seine Taten einzustehen hat.

Bei der konkreten Bemessung der zu erzieherischen Einwirkung erforderlichen Jugendstrafe berücksichtigt die Kammer zu Gunsten des Angeklagten Cem Ates, dass er seine Beteiligung an den 62 Taten in weiten Teilen eingeräumt hat. Der Angeklagte beginnt damit, sich mit dem Unrecht seines Tuns auseinanderzusetzen, und zeigt Ansätze von Reue. Die Kammer übersieht nicht, dass das Bestellsystem der Deutschen Bahn AG den Angeklagten die Begehung der taten leicht machte. Zu Gunsten des Angeklagten geht die Kammer auch davon aus, dass sich die Hemmschwelle zur Begehung der Taten im Laufe der Zeit spürbar herabgesetzt hat.
Auch bei diesem Angeklagten lagen die Voraussetzungen der Aufklärungshilfe im Sinne des § 46 b StGB – in der Fassung vom 01. September 2009 – nicht vor, im Falle der Anwendbarkeit allgemeinen Strafrechts wäre eine Milderung daher nicht in Betracht gekommen. Während des Ermittlungsverfahrens hat der Angeklagte – wie der Vernehmungsbeamte PHM Götner in der Hauptverhandlung berichtete – am 25. Juni 2013 die ihm in diesem Verfahren gemachten Tatvorwürfe im Wesentlichen abgestritten. Auch hat er weder zum Angeklagten Emre Ates noch zum Angeklagten Adnan Polat in seiner Vernehmung sachdienliche Angaben gemacht. Er hat aber den Computerzugangscode preisgegeben. Wenn auch eine Milderung nach §§ 46 b Abs. 1, 49 Abs. 1 StGB somit nicht in Betracht käme, übersieht die Kammer doch nicht diesen, die Ermittlungen erleichternden Aspekt. In der Hauptverhandlung verzichtete der Angeklagte auch auf das Tatmittel, den Laptop Sony Vaio.
Strafrechtlich ist der Angeklagte bisher nicht vorgeahndet, wenngleich er selbst einräumte, an vergleichbaren Taten zeitlich vor dem hier relevanten Tatzeitraum beteiligt gewesen zu sein. Mildernd hat die Kammer auch berücksichtigt, dass gegen den jungen Angeklagten bereits seit etwa einem Jahr und damit sehr lange Untersuchungshaft vollstreckt wird. Erstmals befand er sich in Untersuchungshaft. Die Trennung von seiner Familie belastete ihn sehr. Außerdem kam die – auch die Familie des Angeklagten bedrückende – Ungewissheit über den Verfahrensausgang und möglicherweise drohende ausländerrechtliche Konsequenzen hinzu.

Gegen den Angeklagten spricht, dass er innerhalb eines kurzen Zeitraumes an 62 und damit einer Vielzahl von Computerbetrugstaten beteiligt war, der eine noch größere Zahl an Bestellungen gegenüber der Deutschen Bahn AG zugrundeliegt. Der während der etwa fünf Monate dauernden Tatbeteiligung des Angeklagten durch die Taten Ziffer III. 76. bis 137. eingetretene Schaden ist beträchtlich: Er beträgt 67.970,10 Euro. Die kriminelle Energie, die der Angeklagte an den Tag gelegt hat, ist groß. Nur durch die Festnahme des Angeklagten und seines Bruders konnte die Tatserie beendet werden. Im Übrigen wäre auch bei diesem Angeklagten im Falle der Anwendbarkeit allgemeinen Strafrechts nach Abwägung der genannten Umstände der schwerere Strafrahmen des §§ 263 a Abs. 2, 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1, StGB anzuwenden, da auch er in dem Bestreben handelte, sich eine fortlaufende Einnahmequelle von einigem Umfang und einiger Dauer zur Finanzierung seines Lebensunterhaltes zu verschaffen. In Erwartung einer lukrativen Einnahmequelle brachte er sogar seinen älteren Bruder dazu, die Zusammenarbeit mit dessen Freund unter einem Vorwand zu beenden.

Bei der konkreten Bemessung der zu verhängenden Einheitsjugendstrafe wägt die Kammer die für und gegen den Angeklagten Cem Ates sprechenden Strafzumessungserwägungen ab. Sie berücksichtigt insbesondere, dass gegen den jungen Angeklagten bereits für die Dauer von etwa einem Jahr Untersuchungshaft vollstreckt wurde. Dabei belastete ihn die Trennung von seiner Familie sehr. Die Kammer sieht vor allem die Wirkung, die eine nicht mehr zur Bewährung aussetzungsfähige und daher zu vollstreckende Jugendstrafe auf den heute erst 19- jährigen Angeklagten, der den Besuch der weiterführenden Schule ab Herbst 2014 und die Mittlere Reife anstrebt, entfalten würde. Bei der Abwägung aller Tatumstände und der Persönlichkeit des Angeklagten hält die Kammer deshalb zur erzieherischen Einwirkung die

Einheitsjugendstrafe von 2 Jahren

für erzieherisch angemessen und gerade noch ausreichend.“


Der laute Aufschrei meiner Mutter traf meine Ohren wie ein scharfer Pfeil. Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein – mein Bruder sollte noch ein weiteres Jahr aushalten? Hass und blinde Wut machten sich in mir breit. Ich fühlte mich schwach und machtlos. Ich fing an, die Kooperation, sowohl mit der Bundespolizei, als auch mit der Richterin, aufrichtig zu bereuen. Der Hass galt jedoch nicht nur dem Gericht und der Bundespolizei, nein, vielmehr galt sie mir selber. Ich hatte meinen Bruder in diese Scheiße geritten und tatsächlich gedacht, ich könnte ihn da wieder rausholen. Ich hasste meine Persönlichkeit, meinen Charakter und überhaupt die Person, die ich die ganze Zeit gewesen war – so war ich doch nicht erzogen worden…Und bei diesem Gedanken schoss plötzlich das Bild meines Vaters in meinen Kopf. Er wurde die ganze Zeit während des Urteils als unser Retter und der gute, vernünftige Vater dargestellt. Kurze Zeit hatte ich das selbst geglaubt, mitunter, als ich der Richterin erzählte, was mein Vater für ein Pech hatte, solch einen undankbaren Sohn wie mich zu haben. Nur finanzielle Probleme hatte ich ihm bereitet – dem armen, schlecht verdienenden Vater. Doch ich hatte ihr nicht von der anderen Seite erzählt. Beim Besuch sagte mir anfangs meine Mutter, dass sie meinem Vater die Schuld gab, dass wir Söhne uns so entwickelt hätten. Damals hatte ich sie überhaupt nicht verstanden, war doch die Entscheidung zum Betrug allein die meine gewesen. Dennoch stellte ich mir die Fragen: was war falsch mit mir? Was war falsch mit meinem Bruder? Wieso hatten wir diese kriminelle Energie? Wieso wollten wir so eine gewaltige Menge an Geld? Wieso wollten wir weg von daheim – uns den, wie das Gericht so schön formuliert hatte, „erzieherischen Maßnahmen unserer Eltern” entziehen? Und plötzlich kam die Erleuchtung, ein Gedankenblitz: “Emre, Du bist echt ein stabiler Junge, Du bist schon so lange hier und ich habe Dich kein einziges Mal meckern gehört”, hatte einst Tayfun während des Hofgangs zu mir gesagt. Damals dachte ich echt, ich sei stabil. Doch das war ich nicht. Nie gewesen. Ich war es lediglich gewohnt, nicht frei zu sein. Ich war nie frei gewesen, ich war ein Gefangener meiner Kultur, ein Gefangener der türkischen Gesellschaft, ein Gefangener der Moschee, ein Gefangener meines Vaters – ich war immer jemand gewesen, der ich nicht sein wollte, auf der Suche nach meinem wahren Ich, auf der Suche nach Freiheit. Doch ich hatte auch Angst vor der Einsamkeit, Angst, die Freiheit alleine zu verbringen, in einer Gesellschaft, die ich bislang nur als „Außenstehender“ erlebt hatte – in einer Welt, in der ich womöglich nicht akzeptiert werde. Ich war egoistisch gewesen, denn ich hatte meinen Bruder mit auf die Suche nach der Freiheit genommen. Ich hatte nämlich auch Angst vor der Einsamkeit, die mir von der anderen Seite her blühte – abgestoßen von der türkischen Gesellschaft, von der deutschen Gesellschaft nicht akzeptiert, wo gehörte ich denn dann noch hin? Der Klang des Schluchzens meiner Mutter hallte noch in meinem Kopf nach, und ein erneutes Schluchzen verstärkte den Nachhall in meinem Kopf immer mehr. Meine Mutter, sie war so enttäuscht – dabei waren ihre Kinder immer alles für sie gewesen.

Mit jungen fünfzehn Jahren war sie einem Heranwachsenden quasi „übergeben“ worden, und weit weg von ihrer Familie wurde sie in ein fremdes Land mitgenommen. Gefangen bei den Schwiegereltern, ungebildet und finanziell abhängig von ihrem Ehemann. Sie konnte keine eigenen Entscheidungen treffen – sie durfte einfach nicht. Sie musste für jede Kleinigkeit um Erlaubnis fragen – und wehe, es hatte keinen triftigen Grund. Sie wollte sich integrieren, die deutsche Sprache lernen, was ihr nur zu einem gewissen Grad gestattet wurde. Die Zeit in der Sprachschule hätte sie nämlich von der Zeit, in der sie ihrem Ehemann eine gute Hausfrau hätte sein müssen, abknöpfen müssen. Sie durfte aber eines ganz gewiss: ihre Freizeit in der Moschee verbringen, um dort – abgesehen von ihrem Mann – Allah zu dienen. Ich bin mir sicher, dass sie sich ihren Kindern eine tollere Kindheit, aber auch eine bessere Zukunft gewünscht hat als ihre.

Und nun bestand unsere nahe Zukunft aus vier Wänden, einem Bett und 8 Quadratmetern.

„Die Kammer setzt die Vollstreckung der Einheitsjugendstrafe gemäß § 21 JGG zur Bewährung aus. Sie geht davon aus, dass deren Vollstreckung im Hinblick auf die Entwicklung des Angeklagten Cem Ates nicht geboten ist. Die Kammer ist überzeugt, dass dieser sich bereits die lang dauernde Hauptverhandlung und die anschließende Verurteilung zur Warnung dienen lässt und auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs, aber der erzieherischen Einwirkung in der Bewährungszeit künftig einen rechtsschaffenen Lebenswandel führen wird. Der junge Angeklagte wird erstmals zu einer Jugendstrafe verurteilt. Die guten familiären Umstände und die Ziele, die sich der Angeklagte vorgenommen hat, zu erreichen, lassen eine günstige Prognose zu. Bis heute verbindet ihn mit seiner Familie ein enges Verhältnis. Dies – und die Unterstützung sowohl durch einen Betreuer im Rahmen der Betreuungsweisung für die Dauer von sechs Monaten als auch durch einen hauptamtlichen Bewährungshelfer – wird ihn während der Bewährungszeit stützten und fördern. Die Kammer ist deshalb überzeugt, dass er sich – auch gestützt durch die Weisungen und Auflagen – künftig straffrei halten wird. Nur so kann es ihm gelingen, sich eine Perspektive für seine Zukunft zu erarbeiten.

3. Der Angeklagte Adnan Polat war bei den abgeurteilten Taten Ziffer III. 1. bis 75. 20 Jahre alt und damit heranwachsender im Sinne des Jugendgerichtsgesetzes. Die Kammer wendet auf ihn das allgemeine Strafrecht an. Weder ergibt die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Angeklagten bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen, dass er zur Zeit der taten nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand (§ 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG), noch handelt es sich nach der Art, den Umständen oder den Beweggründen der Taten um eine Jugendverfehlung (§ 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG). Beim Angeklagten Adnan Polat sind Entwicklungs- und Reifeverzögerungen im Zeitpunkt der Taten nicht ersichtlich. Der Angeklagte wuchs in geordneten Verhältnissen im Kreise seiner Familie in Stuttgart auf. Zunächst absolvierte er problemlos die Hauptschule. Nahtlos wechselte er an die zweijährige Berufsfachschule, die er im Jahr 2009 mit der mittleren Reife abschloss. Unmittelbar daran anschließend erfolgte die Ausbildung zum IT-Systemkaufmann, die ihm zwar wenig Freude bereitete, die er aber verantwortungsbewusst absolvierte, bis er den Abschluss erreicht hatte. Seine schulische und berufliche Laufbahn ist damit geradlinig. Bald nach Abschluss der Ausbildung am 12. Juli 2012 entschloss er sich, gemeinsam mit dem Angeklagten Emre Ates im Bereich der Computerbetrugstaten aktiv zu werden, da er sich einen lukrativen „Nebenjob“ erhoffte. Stand er damals vor der Entscheidung, eine Arbeitsstelle anzutreten oder die Fachhochschulreife zu absolvieren, um studieren zu können, entschied er sich – insbesondere nach Gesprächen mit dem Angeklagten Emre Ates, der ihm zuriet, die Fachhochschulreife zu absolvieren – schließlich für den ihm angebotenen „Nebenjob“, auch um sich den Schulbesuch leisten zu können.
Auch in der Freizeit übernahm und übernimmt der Angeklagte bis heute Verantwortung. Er war im Bereich des Basketballs zunächst als Vereinsspieler, dann als Trainer und Jugendwart tätig. Bis heute ist er in der Jugendbetreuung und als Schiedsrichter aktiv.
Wenn der Angeklagte auch als jüngster Sohn der Familie damals und bis heute im Elternhaus lebt und auch nach wie vor Ablösungstendenzen nicht ersichtlich sind, ist dies nicht mit Entwicklungs- und Reifeverzögerungen zu erklären. Vielmehr übernimmt der Angeklagte gerade Verantwortung für seine gesundheitlich angeschlagenen Eltern und unterstützt diese in vielfältiger Hinsicht.
Aufgrund der Biographie des Angeklagten geht die Kammer daher davon aus, dass die Persönlichkeitsentwicklung des zum Zeitpunkt der Tatbegehung 20 Jährigen altersentsprechend war. Entwicklungs- und Reifeverzögerungen, die es erlaubt hätten, ihn im Sinne des § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG einem Jugendlichen gleichzustellen, mithin im Umfang von mehr als zwei Jahren, konnten nicht festgestellt werden.
Die Art, die Umstände und die Beweggründe der Taten zeigen auch keine speziell jugendtümliche Verhaltensweise des bei Tatbegehung Heranwachsenden. Dass er sich einen lukrativen „Nebenjob“ erhoffte und einte, die finanziellen Verluste der Kreditkarteninhaber würden anderweitig schon ausgeglichen werden, ist nicht als speziell jugendtümlich zu werten. Das Handeln und Denken des Angeklagten zeichnete sich auch damals bereits grundsätzlich durch hohe Eigenverantwortung aus. er agierte überlegt und planvoll und legte dabei zugleich eine erhebliche kriminelle Energie an den Tag.

Bei den abgeurteilten Taten III. 1 bis 75. wendet die Kammer über § 263 a Abs. 2 StGB den schwereren Strafrahmen des § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StGB a, der eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren vorsieht.

Auch dieser Angeklagte handelte bei seinen Taten in dem Bestreben, sich durch die wiederholte Tatbegehung – die über einen Zeitraum von etwa drei Monaten erfolgte – zur Aufbesserung seiner finanziellen Situation nach Beendigung seiner Ausbildung und vor der Aufnahme der weiterführenden Schule eine nicht nur vorübergehende, nicht ganz unerhebliche Einnahmequelle zu verschaffen, und damit gewerbsmäßig.

Die Kammer hat nach einer Gesamtbewertung aller Umstände keinen Anlass, von der Regelwirkung des in § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StGB genannten Beispiels abzusehen.

Der Angeklagte Adnan räume zwar ebenfalls seine Beteiligung an den Taten Ziffer III. 1. bis 75. offen und aufrichtig ein, machte ausführliche Angaben zur Vorgehensweise und bereute sein Tun. In der Hauptverhandlung verzichtete er auf die Herausgabe des Tatmittels, seines Laptops Netbook.
Die Kammer verkennt nicht, dass das Sicherungssystem der Deutschen Bahn AG den Angeklagten die Begehung der Taten leicht machte. Zu Gunsten des Angeklagten geht sie auch davon aus, dass die Hemmschwelle im Laufe der Zeit spürbar sank. Während der Dauer des Verfahrens hatte der junge Angeklagte mit der Ungewissheit betreffend den Verfahrensausgang und den möglichen Konsequenzen für seine persönliche, gegebenenfalls auch ausländerrechtliche und berufliche Situation umzugehen. Dies belastete ihn. Wenn auch nur wenige Tage Untersuchungshaft gegen ihn vollstreckt wurden, so hat ihn diese Zeit doch nachhaltig beeindruckt und die Trennung von seiner Familie belastet. Er befand sich erstmals in Untersuchungshaft. Strafrechtlich war der Angeklagte bisher nicht in Erscheinung getreten. Er hat ein verantwortungsvolles und geordnetes Leben geführt. Erstmals überhaupt hatte er sich nun vor Gericht zu verantworten und eine nicht unerhebliche Freiheitsstrafe zu gewärtigen.

Demgegenüber sprach den Angeklagten, dass er in einem Zeitraum von etwa drei Monaten gemeinsam mit dem Angeklagten Emre Ates 75 und damit eine Vielzahl an Computerbetrugstaten, denen eine weitaus höhere Zahl an Bestellungen zugrunde lag, begangen und damit eine erhebliche kriminelle Energie an den Tag gelegt hat. Auch er ließ sich von der Durchsuchung in der Wohnung der Familie Ates wegen, wie er erfahren hatte, gleichgelagerter Vorwürfe nicht von der weiteren Tatbeteiligung abhalten. Am selben Tag erhielt sein Freund die von ihnen lange ersehnten Unterlagen zu dem ersten gemeinsamen Konto bei der Ziraat Bank. Der eingetretene Schaden ist beträchtlich: Während der etwa drei Monate dauernde Tatbeteiligung des Angeklagten Adnan Polat verursachten die beiden Angeklagten durch die Taten Ziffer III. 1. bis 75. einen Schaden in Höhe von 54.037,90 Euro.

Diese Umstände lassen im Rahmen der Gesamtbewertung aller Umstände die Anwendung des Regelbeispiels des § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StGB nicht unangemessen erscheinen. Auch wenn er seine Beteiligung einräumte, so fällt demgegenüber doch insbesondere die kriminelle Energie, die der Angeklagte während der drei Monate seiner Beteiligung an den Tag legte, ins Gewicht.

Eine Milderung der Strafe gemäß § 46 b StGB – in der Fassung vom 01. September 2009 – in Verbindung § 49 Abs. 1 StGB kam aber auch bei diesem Angeklagten nicht in Betracht. Der Angeklagte Adnan Polat hat nicht durch freiwilliges Offenbaren seines Wissens wesentlich dazu beigetragen, dass eine Tat nach § 100 a Abs. 2 StPO aufgedeckt werden konnte, § 46 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1. Er hat zwar – wie von dem Vernehmungsbeamten PHM Götner und POK Bauer in der Hauptverhandlung dargelegt – bei seiner polizeilichen Vernehmung am 06. August 2013 geständige Angaben zu seiner Tatbeteiligung gemacht. War der Täter ab an der Tat beteiligt, muss sich sein Beitrag zur Aufklärung nach § 46 b Abs. 1 Satz 1 StGB über den eigenen Tatbeitrag hinaus erstrecken, § 46 b Abs. 1 Satz 3 StGB. Zum Zeitpunkt seiner Aussage, in der er insbesondere die Methode beschrieb, waren aber der Angeklagte Emre Ates der, der bereits Anfang Juni 2013 seine Tatbeteiligung eingeräumt und Passwörter offenbart hatte, und der Angeklagte Cem Ates, der seine Beteiligung zu diesem Zeitpunkt zwar abgestritten, aber auch den Computerzugangscode preisgegeben hatte, bereits seit Anfang April 2013 in Untersuchungshaft.

Bei der konkreten Straffindung berücksichtigt die Kammer zugunsten des Angeklagten die bereits bei der Wahl des Strafrahmens genannten Strafzumessungsgesichtspunkte, vor allem die Tatsache, dass der Angeklagte seine Beteiligung an den Taten Ziffer III. 1. bis 75. eingeräumt hat. Die Kammer verkennt nicht, dass er bereits im Ermittlungsverfahren zu seiner Tatbeteiligung gestanden und Angaben zur Vorgehensweise gemacht hat, wenn auch eine Milderung nach §§ 46 b Abs. 1, 49 StGB nicht in Betracht kam.
Demgegenüber standen die – ebenfalls bereits bei der Wahl des Strafrahmens genannten – Strafzumessungsgesichtspunkte, die gegen den Angeklagten sprachen. Insbesondere fällt der in den drei Monaten seiner Tatbeteiligung eingetretene, erhebliche Schaden ins Gewicht.
Bei der Bemessung der konkreten Einzelstrafen hat die Kammer zudem die Vielzahl der den Taten jeweils zugrundeliegenden Bestellungen und damit auch die Höhe des insoweit eingetretenen Schadens berücksichtigt.

Insgesamt hat die Kammer unter Berücksichtigung des Unrechts- und Schuldgehalts der Taten und unter umfassender Würdigung aller für und gegen den Angeklagten Adnan Polat sprechenden Strafzumessungsgesichtspunkte auf folgende Einzelstrafen erkannt:

Für die Taten Ziffer III.
17. und 68.:
jeweils zwölf Monate Freiheitsstrafe,

für die Taten Ziffer III.
20., 26., 42., 44. und 70.:
jeweils zehn Monate Freiheitsstrafe,

für die Taten Ziffer III.
5., 8., 9., 15., 16., 21., 30., 34., 35., 36., 43., 45., 46., 47., 48., 58., 63., 64., 65., 67., 69., 71., 72., 73. und 74.:
jeweils acht Monate Freiheitsstrafe,

und für die Taten Ziffer III.
1., 2., 3., 4., 6., 7., 10., 11., 12., 13., 14., 18., 19., 22., 23., 24., 25., 27., 28., 29., 31., 32., 33., 37., 38., 39., 40., 41., 49., 50., 51., 52., 53., 54., 55., 56., 57., 59., 60., 61., 62., 66., und 75.:
jeweils sechs Monate Freiheitsstrafe.

Bei der gemäß §§ 53, 54 StGB zu bildenden Gesamtstrafe und ausgehend von der Einsatzstrafe von zwölf Monaten im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 2 StGB hat die Kammer die für und gegen den Angeklagten Adnan Polat sprechenden Strafgesichtspunkte erneut umfassend gewürdigt. Sie hat dabei berücksichtigt, dass sich die Hemmschwelle des Angeklagten im Laufe der Zeit spürbar herabgesetzt hat und hält deshalb und wegen des engen persönlichen und situativen Zusammenhangs dieser Taten einen äußerst straffer Zusammenzug gerechtfertigt.

Bei der Gesamtabwägung hält die Kammer deshalb die

Gesamtstrafe von einem Jahr und neun Monaten Freiheitsstrafe

für tat- und schuldangemessen.

Die Kammer setzt die Vollstreckung der Freiheitsstrafe gemäß § 56 StGB zur Bewährung aus, denn sie ist davon überzeugt, dass der Angeklagte Adnan Polat sich bereits die Verurteilung zur Warnung dienen lässt und auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs künftig einen rechtschaffenen Lebenswandel führen wird. Seine derzeitigen Lebensverhältnisse sprechen für ihn: Er studiert im zweiten Semester, lebt im Elternhaus und kümmert sich um seine gesundheitlich angeschlagenen Eltern, mit denen ihn bis heute ein enges Verhältnis verbindet. Bis heute ist er in der Basketball-Jugendbetreuung aktiv. Kritisch hat sich der Angeklagte mit seinen Taten auseinandergesetzt. Das gute familiäre und soziale Umfeld, die regelgerechte Schul- und Berufsausbildung und die vom Angeklagten ins Auge gefassten Pläne für seine Zukunft lassen eine günstige Prognose zu. All dies wird ihn während der Bewährungszeit stützten und fördern. Neuerliche, vor allem vergleichbare Straftaten muss man bei diesem Angeklagten nicht erwarten. Die Kammer ist deshalb überzeugt, dass er sich – auch durch die Weisungen und Auflagen gestützt – künftig straffrei halten wird.

Entscheidungen nach § 111 i StPO

Ansprüche Verletzter, mithin der Deutschen Bahn AG, stehen einer Verfallsanordnung betreffend des bei der Postbank AG geführten, durch Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart vom 12. Juni 2013 beschlagnahmten Kontos mit dem Restguthaben von 3.737,51 Euro, aber auch des am 05. April 2013 in Gewahrsam genommenen Bargeldbetrags von 995 Euro entgegen, §§ 111 i Abs. 2, 111 c Abs. 1, 111 b Abs. 1, Abs. 5 StPO, § 73 StGB.
Gleiches gilt für die Anordnung des Verfalls von Wertersatz gemäß § 111 i Abs. 2 StPO, § 73 a StGB in Höhe von 117.267 Euro bei dem Angeklagten Emre Ates, 49.267 Euro bei dem Angeklagten Cem Ates und 68.000 Euro bei dem Angeklagten Adnan Polat. Auch insoweit stehen Ansprüche Verletzter, der Deutschen Bahn AG, entgegen. Der Verbleib des Erlangten ist unklar. Lediglich die in Gewahrsam genommene Bargeldsumme in Höhe von 995 Euro und das Guthaben in Höhe von 3.737,51 Euro auf dem zuvor genannten, beschlagnahmten Konto festgestellt werden.

Kosten

Hinsichtlich der Angeklagten Emre Ates und Adnan Polat ergibt sich die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens und deren notwendige Auslagen aus § 465 StPO. Gemäß § 74 JGG hat die Kammer davon abgesehen, dem Angeklagten Cem Ates die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.“


Ich war etwas verwirrt, als die Richterin mit dem Urteil fertig war und wir uns wieder setzen durften. Sobald das Urteil zu Ende war, sprach ich meine Anwältin an: „Ist mein Bruder auf Bewährung draußen?“ Sie erwiderte meinen verzweifelten Blick lächelnderweise: „Ja, er darf gehen“, flüsterte sie mir zu. Mir schossen Glücksgefühle in die Brust, ein Kribbeln machte sich in meinem Bauch breit und ich fühlte mich fast so, als sei ich verliebt. Innerlich schrie ich: „YES! Mein Bruder ist draußen! Yes!“ Mein Grinsen konnte dem Auge der Richterin nicht entgehen, woraufhin sie meinte: „Sie scheinen wohl kein Problem mit dem Urteil zu haben.“ Ich grinste sie an: „Mein Bruder darf raus, nicht wahr?“ Sie bejahte und sah sofort meinen Bruder an: „Herr Cem Ates, uns ist die Entscheidung nicht leichtgefallen. Eigentlich wollten wir Sie noch weiterhin in Haft behalten und nach Adelsheim schicken, damit sie dort ihre Mittlere Reife nachholen können. Sie können von Glück reden, dass die JVA Adelsheim nach einem Anruf mitgeteilt hat, dass sie keine Plätze mehr für das kommende Jahr haben, weshalb sie als Bewährungsauflage die mittlere Reife nachholen müssen. Wenn Sie jetzt nach Hause gehen…“, die Richterin wurde vom Schluchzen meiner Mutter im Satz unterbrochen und blickte sie tadelnd an: „Frau Ates, warum weinen Sie denn noch? Ihren jüngsten Sohn können Sie heute mitnehmen.“ Ich sah meine Mutter an, sie hatte ihre beiden Hände auf ihr Gesicht gepresst, um ihre Tränen nicht zeigen zu müssen. Ihr Gesicht war total rot angelaufen, als sie hochschreckte. Neben ihr war meine Zwillingsschwester, die auch weinte und ungläubig wirkte: „Was? Mein Bruder ist draußen?“, die Richterin nickte und fragte sich wohl, warum das nicht offensichtlich gewesen sei. Meine Schwester stupste sofort meine Mutter an: „Cem ist draußen, Mama! Cem ist frei!“, meine Mutter stutzte und vergewisserte sich nochmals bei meiner Schwester, ob sie richtig verstanden hätte, und begann von Neuem zu weinen – doch diesmal vor Glück! Dieser Moment brannte sich in mein Gedächtnis ein, es war einer der schönsten in meinem Leben. Meinen Vater hatte ich keines Blickes gewürdigt, auch hatte ich seine Reaktion auf das Strafmaß nicht wahrgenommen. Cem und ich grinsten einander an und ich zeigte ihm den Daumen nach oben, während die Richterin mit einer Predigt fortfuhr. Sie empfahl meinem Bruder, das Beste aus seiner Freiheit zu machen und zu bedenken, dass noch ein weiteres Verfahren gegen ihn lief. Danach wandte sie sich mir zu: „Ja, Herr Ates, zu Ihnen: Wir als Kammer hätten Ihnen – und das können Sie uns glauben – ein milderes Urteil gegeben. Doch das Gesetz hat dies nicht zugelassen, in Anbetracht der Umstände war dies das Wenigste, das wir Ihnen geben konnten. Lassen Sie sich nicht unterkriegen und verfolgen Sie ihr Ziel, ein Studium zu beginnen.“ Ich bedankte mich bei ihr, dass sie meinen Bruder frei gelassen hatten, und wandte mich meiner Anwältin zu. Sie meinte, dass sie alsbald zu Besuch kommen würde, um das weitere Vorgehen zu diskutieren und, dass sie nicht mit dem Urteil zufrieden sei – mich interessierte in diesem Moment aber nur mein Bruder. Meine Augen wurden leicht feucht, als mir die Handschellen an die Handgelenke angebracht wurden und ich sah, wie mein Bruder in den Armen meiner Familie lag und meine Mutter an seinen Haaren roch und ihn an den Wangen küsste. Es lag so viel Rührung in diesem Moment. Ein Beamter begleitete mich, als ich kurz zu meiner Familie ging und sie mich mit ihren weinenden Augen anblickten. Meine Schwester streckte ihre Hand aus und legte sie auf meine Schulter: „Oh Emre, es tut mir so Leid“, sie begann abermals zu schluchzen, und meine Mutter wollte mich auch noch trösten. Ich versuchte jedoch, stark zu bleiben. Ich wollte nicht weinen, ich wollte nicht, dass sie Mitleid mit mir hatten – ich wollte einfach, dass sie es genießen konnten, meinen Bruder wieder bei sich zu haben. „Wir sehen uns übermorgen, beim Besuch!“, sagte ich munter zu meiner Mutter, als ich in Richtung Ausgang geführt wurde. Mein Vater hielt mich kurz auf: „Mein Sohn…bleib stark, wir schaffen das! Bis übermorgen!“ Ich nickte und wandte meinen Blick in Richtung Ausgang. Das Bild meiner Familie, dieser Wiedervereinigung, würde ich wohl nie vergessen.

Doch sobald ich wieder in der Wartezelle saß, dachte ich über mein Strafmaß nach: war es gerecht oder nicht? Eigentlich hatte es die Richterin bereits plausibel erläutert: Ich war vorbestraft, ich hatte mich von der Hausdurchsuchung seitens der BKA Kassel nicht abhalten lassen weiterzumachen, und Adnan hatte ich auch nicht verraten. Folglich konnte es keine Strafmilderung geben. Andererseits hatten sie mir die Herausgabe des Passwortes auch nicht als strafmildernd anerkannt und mich damit abgespeist, dass ich nur die Ermittlungsarbeiten damit beschleunigt hätte. Ich hatte während meiner Haft schon einige Urteile zu Ohren bekommen, jeder hatte einfach ein anderes Rechtsempfinden. Wenn ich meine Taten mit anderen verglich, erschienen sie mir relativ harmlos – verglichen mit anderen wiederum empfand ich sie als schlimmer. Das gleiche galt beim Strafmaß – ich musste mich einfach damit abfinden, und sollte mich darüber freuen, dass wir nicht des bandenmäßigen Betruges angeklagt worden waren. Sonst wäre ich unter fünf Jahren nicht davongekommen. Es war Zeit, nach vorne zu blicken, denn ich hatte ein ganz bestimmtes Ziel: Ich wollte studieren und das alsbald wie möglich. Wir hatten April 2014 und nach meinen Berechnungen und, ich gebe zu, auch mit einer Prise Wunschdenken, sollte ich ab Oktober 2014 im Freigängerheim studieren dürfen. Ich ließ mir sagen, dass man ein Jahr vor voraussichtlicher Entlassung in den Freigang durfte und ging davon aus, dass ich nur 2/3 meiner Strafe, also 2 Jahre und 6 Monate, absitzen würde müssen. Dies bedeutete, dass ich nach 1 Jahr und 6 Monaten in den Freigang durfte. 1 Jahr saß ich bereits, was wiederum hieß, dass ich nach 6 Monaten, also im Oktober, in den Freigang werde gehen dürfen. Vielleicht war das eine Milchmädchenrechnung und, wie bereits erwähnt, eher Wunschdenken als Realität. Wenn ich jedoch eines in der Haft gelernt hatte, dann, dass Hoffnung zu den Dingen zähle, die einem die Haft einigermaßen erträglich machte. Und so musste ich einfach hoffen, dass ich im Oktober 2014 in den Freigang werde gehen dürfen.

Doch bis dahin war es noch ein weiter weg voller Hürden. Stammheim war nur für U-Häftlinge, ich würde also in eine andere Strafanstalt kommen. Wie würde ich mich dort integrieren? Auch liefen noch zwei weitere Ermittlungsverfahren gegen mich. Nun war ich ein vorbestrafter türkischer Staatsbürger ohne Aufenthaltstitel – ab drei Jahren Strafmaß drohte eine Abschiebung, dies hatte mir die Richterin klargemacht. Doch wie real war diese Gefahr tatsächlich?

Ich hätte niemals ahnen können, dass sich das nächste Jahr ganz anders entwickeln würde, als ich es mir vorgestellt hatte – ich hatte wieder mal keine Ahnung. Ein metallisches Rascheln riss mich aus meinen Gedanken. Es waren die bis heute unvergessenen Schlüsselgeräusche, die ertönten, bevor sich meine Tür öffnete. Ein Beamter aus Stammheim stand vor mir.

„Los geht’s.“
 

Cybergreek

Boardgrieche

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Ich bin vor zwei Wochen aus anderen Gründen hier im ngb gelandet (bye bye gEb) und bin in diesem Thread gelandet.

Dass ich so spät dazugekommen bin, hatte den Vorteil, dass ich in den letzten Tagen alles am Stück durchlesen konnte. Jetzt bin ich aber an einer Stelle, wo ich genau wie alle anderen den nächsten Teil kaum abwarten kann ;)
Hab gerade sogar die Kommentare auf Deinem Blog und reddit durch um die Wartezeit zu verkürzen :D
Damit hat sich auch meine Frage erledigt, ob Du Dir während der Haft Notizen gemacht hast oder alles aus den Erinnerungen runter schreibst. Respekt, dass Du so viele Details noch runter schreiben kannst.

Dein Schreibstil gefällt mir sehr, wie den meisten hier.
Hab schon lange nicht mehr so lange Texte am Rechner gelesen. Das geht sehr schnell bei mir, dass ich dann mit dem Überfliegen anfange, aber nicht in diesem Fall.
Mach weiter so und lass Dich nicht unter Druck setzen. Auch wenn die Leser ungeduldig werden ist es schön zu sehen, dass Du Deine Prioritäten setzt.

Als Grieche muss ich das noch fragen: Irgendwelche Griechen unterwegs aufgetaucht? Und falls ja, wie war so das Verhältnis zu denen in der Haft? Da ich einige sehr gute türkische Freunde habe (die "Künstlernamen" Cem und Emre sind da auch drunter :D), fänd ich das interessant.
 

Trolling Stone

Troll Landa
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Hui.

Dein Bruder kam also doch noch frei nach immerhin schon einjähriger U-Haft. Ob ihm das wirklich gut getan hat bei deinem Vater? Wir werden sicher noch etwas von seiner Entwicklung lesen. :)

Dass Adnan Bewährung bekommen würde, war abzusehen. Da kam nichts Überraschendes.
Jetzt bin ich gespannt auf dein "Leben" im Knast und wie lange das tatsächlich dauerte. :D
 

BeSure

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@Cybergreek:

Wow, vielen Dank! Es macht total solch ein Feedback zu lesen! Ich zeige solche Kommentare dann immer total stolz meinen Freunden und meiner Familie :)

Bezüglich Griechen in der Haft: Da kann ich mich nur an einen einzigen Griechen erinnern, total sympathisch und ein "normaler" Junge. Viel zu tun hatte ich mit ihm jedoch nicht, er wird aber in den nächsten Kapiteln kurze Auftritte haben ;) Ansonsten bin ich gerade auch überrascht, dass so wenige deiner Landsleute in der Haft waren :P

@Trolling Stone:

Ich muss gestehen, ich fragte mich stets, ob ein weiteres Jahr Haft für meinen Bruder nicht besser gewesen wäre. Es hat sich jedenfalls alles nicht so entwickelt, wie erhofft - dazu aber in (viel) späteren Kapiteln mehr :)

Ja, bei Adnan war das abzusehen. Ich freu mich jedenfalls für ihn, er hat sich sehr positiv entwickelt, etwas beneiden tue ich ihn schon.
Es kommen noch interessante Zeiten in der Haft hinzu, und es wird abwechslungsreich - wenn ich daran denke, was alles noch zum Weiterschreiben bevorsteht, habe ich auf gar keine Lust mehr darauf, hahaha.
 

Cybergreek

Boardgrieche

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Da kann ich mich nur an einen einzigen Griechen erinnern, total sympathisch und ein "normaler" Junge. Viel zu tun hatte ich mit ihm jedoch nicht, er wird aber in den nächsten Kapiteln kurze Auftritte haben ;)
Da bin ich schon mal gespannt, auch wenn es nur kurze Auftritte werden ;)

Ansonsten bin ich gerade auch überrascht, dass so wenige deiner Landsleute in der Haft waren :P
Wir sind halt alle brav ;)
 

BeSure

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Kapitel 51 - Nazar: Die Ausrede für alles

Die Beschäftigung als Reiniger war gut, um die eigenen Gedanken zu sortieren. Zwischenzeitlich hatte ich das Urteil von gestern verkraftet, nicht zuletzt dank der Ablenkung durch die Arbeit. Als ich die großen Flure gemeinsam mit meinem Reiniger – Kollegen wischte, ließ ich meine Gedanken schweifen und begann mit dem Schmieden von Zukunftsplänen für mich. Dies führte zu extrem unangenehmen Gefühlen des Drucks und Stress, da ich für weitergehende Planungen dringend den Input von meiner Anwältin und auch von der Sozialarbeiterin benötigte. Dies machte mich unruhig. Den Antrag für ein Gespräch mit der Sozialarbeiterin hatte ich bereits gestellt, und auch, wenn unser erstes Aufeinandertreffen holprig verlaufen war und wir uns mehr oder weniger gestritten hatten, hoffte ich auf ihre Unterstützung. Meine Anwältin ihrerseits hatte einen Besuchstermin für morgen ausgemacht. Doch heute stand zunächst der Besuch meiner Familie auf dem Plan. Sie hatten glücklicherweise schon einen Besuchstermin für den Tag nach dem Urteil ausgemacht, quasi als Präventivmaßnahme, falls ich am Urteilstag nicht entlassen worden wäre. Was ja nun erwartungsgemäß eingetreten war.

Auch in der JVA Stuttgart war es erlaubt, vor dem Besuch zu duschen. „Das machen wir aber nur mit, weil das ein Arbeiterstockwerk ist“, entgegnete mir der Beamte, als ich um Erlaubnis für eine Dusche bat. In den oberen Stockwerken herrschte weiterhin die Devise, dass man nur zwei Mal in der Woche für je 10 Minuten duschen durfte – ausnahmslos! Im Besuchsraum angekommen, erwarteten mich meine Mutter und sogar meine Großmutter, über deren Besuch ich positiv überrascht war. Als erstes widmete ich mich ihr und küsste ihre Hand – dies war der respektvolle Umgang, der in der türkischen Kultur erwartet wurde. Auch war es üblich, zuerst dem ältesten Familienmitglied die Aufmerksamkeit zu schenken, weshalb ich meine Mutter kurz außen vor ließ, als ich meine Oma auf türkisch fragte, wie es ihr denn ginge. Noch bevor sie antworten konnte, ertönte die mahnende Stimme der Beamtin, die sich wieder Erwarten noch im Besuchsraum befand: „Hier wird kein türkisch gesprochen, nur auf deutsch bitte.“ Ich blickte sie verwundert an: „Wie jetzt? Ich werde doch weder optisch, noch akustisch überwacht?“ Sie schüttelte den Kopf: „Ihre Besuche werden sehr wohl überwacht.“ Ich bat sie, dies nochmals zu prüfen und erst nach mehrmaligem Nachhaken, rief sie eine Kollegin, die mein Anliegen prüfen sollte. Derweil saß ich deprimiert da und konnte mit meiner Oma kein Wort sprechen, denn wir durften ihr nicht einmal mitteilen, dass türkisch nicht erlaubt war. Ich wandte mich also vorerst meiner Mutter zu und sie küsste mich am ganzen Gesicht, bevor sie mich wieder hinsetzen ließ. Mir fiel das erste Mal wirklich auf, dass meine Oma ohne sprachliche Hilfe total aufgeschmissen war. Sie befand sich nun seit fast 40 Jahren in Deutschland und konnte kein einziges Wort deutsch, selbiges galt für meinen Opa – der beherrschte die deutsche Sprache in etwa so, wie ein Grundschüler die englische beherrschte. Meine Oma war schon 80 Jahre alt, ich verstand es, dass sie nicht mehr in der Lage war, die Sprache nun zu lernen. Doch war es damals, vor 40 Jahren, auch schon zu spät gewesen? Mein Vater war nicht anders – seine Deutschkenntnisse entsprachen denen jener Väter, die man in klischeebehafteten deutsch- türkischen Filmen zu sehen bekam. Meine Mutter konnte sich gut mit mir auf deutsch unterhalten, was ich beachtlich fand vor dem Hintergrund, dass ihr jegliche (Weiter-)Bildungschancen verwehrt worden waren. Von diesem Gedanken getragen, begann ich das Gespräch mit ihr: „Mama, wie denkst du über die deutsche Sprache?“ Ich teilte ihr meine Gedankengänge bezüglich der Deutschkenntnisse meiner Großeltern und meinem Vater mit. Es war seltsam, wie uns meine Oma mit angestrengtem Blick beobachtete. Vergleichbar mit einem gerade erst das Schreiben lernenden Kind, das gerade versuchte, die Wörter des ersten Diktats in der Grundschule zu verstehen. Alsbald kam dann zum Glück die Erlösung, als es an der Tür klopfte: „Herr Ates, es tut uns leid, wir haben einen Fehler gemacht. Sie dürfen selbstverständlich ihren Besuch ohne optische-akustische Überwachung fortsetzen.“ Mit einem siegreichen Grinsen im Gesicht blickte ich die uns überwachende Beamtin an, während sie uns in einen anderen Besuchsraum begleitete. Ich fing von vorn an und begrüßte meine Oma nochmals. Ich fragte, wie es ihr denn so geht, und sie antwortete genau mit der Art, die ihr auch in meiner Erinnerung eigen war: „Ach, ich bin alt, frag mich doch nicht, wie es mir geht. Viel wichtiger ist: Wie geht es Dir? Was isst Du hier? Du verhungerst doch sicherlich. Du siehst so dürr aus.“ Ich erklärte ihr, dass uns zwar kein Fünf- Sterne-Menü vorgesetzt wurde, ich jedoch keineswegs verhungern würde: „Außerdem darf ich als Reiniger kochen, Oma. Das ist ein Privileg, welches nur die Reiniger besitzen.“ Das schien sie zu beruhigen – natürlich verschwieg ich, dass es beim vierzehn-tägigen Einkauf keinerlei Lebensmittel zu ordern gab, die sich zum Kochen eignen würden. In Schwäbisch Hall fand ich die Einkaufsliste vielfältiger, sie war auch so ausgelegt, dass man die Küche sinnvoll nutzen konnte. In Stammheim war das Kochen im individuellen Sinne keineswegs vorgesehen. Weshalb sie dennoch eine Küche eingebaut hatten, war mir unklar. Meine Oma machte ein trauriges und enttäuschtes Gesicht: „Ach mein Emre, die haben dich hier reingesteckt. Die haben alle Auge gemacht – es ist der Nazar der neidischen Leute.“ Das hatte ich jetzt schon öfter von meinen Großeltern gehört, wenn etwas Negatives in meinem Leben passiert worden war, sie aber nicht wahrhaben wollten, dass es nicht zu leugnen und ganz allein meine Schuld war. Es war mir bewusst, dass ich ihr Lieblingsenkel war – vermutlich, weil ich der erstgeborene männliche Enkel war, der einen hohen Stellenwert in der türkischen Kultur innehat. Mein Opa setzte mich auf ein derart hohes Podest, dass ich mich manchmal wirklich gegenüber meinen Geschwistern überlegen fühlte. Die Menge an Liebe und den Respekt, den sie mir entgegenbrachten, kam in gleicher Höhe als Gleichgültigkeit gegenüber meinen Geschwistern an. Dies war erziehungstechnisch selbstverständlich keinesfalls korrekt, weder für meine Geschwister, noch für mich. Meine Großeltern sahen einfach immer das Positive an mir, das Negative ignorierten sie oder noch besser, schoben die Schuld anderen in die Schuhe. Mein Vater hingegen kam für den Unsinn auf, den ich veranstaltete, also die Begleichung meiner Schulden. Meine Mutter sah in mir eine liebevolle, nette Person, die keiner Fliege was zur Leide tun konnte. Ich hatte aufgrund dieser Familienkonstellation einfach nie wirklich Konsequenzen aus meinen Fehlverhalten ziehen müssen. „Oma, das war ich allein. Da hat mich keiner schief und neidisch angesehen, das war kein Nazar. Ich habe das wegen des Geldes getan. Aber egal jetzt, sag mal, wo ist denn Opa? Im Gericht habe ich ihn auch nicht gesehen?“ Meine Mutter klinkte sich ein: „Dein Opa wollte Dich nicht in dieser Situation sehen, es würde seinem Herzen nicht guttun. Wir wollten auch, dass er zum Gericht mitkommt, er hat aber darauf bestanden, daheim zu bleiben. Ich glaube, er verkraftet die ganze Sache nicht.“ Diese Logik verstand ich bis heute nicht, sein Sohn, mein Vater, hatte den gleichen Gedanken bei meiner Zwillingsschwester gehabt: Sie sollte mich nicht in dieser Lage sehen, weswegen er ihr den Besuch vor dem Urteil gänzlich verboten hatte. Doch durch das Hinwegsehen konnte man den Fakt meiner Verhaftung auch nicht leugnen. „Und Papa? Cem?“, fragte ich etwas beleidigt. „Dein Vater arbeitet, er konnte sich nicht frei nehmen. Und Cem hat keine Besuchserlaubnis bekommen, weil er bereits in Stammheim gesessen hat. Er darf dich nur in einer Strafanstalt besuchen, in der er selber nicht in den letzten zwei Jahren gesessen hat“, erklärte mir meine Mutter geduldig. Das wusste ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht. Die wollen wohl verhindern, dass hier jemand einen auf Prison Break macht. Ich erklärte meiner Mutter von meinem Plan, im September oder im Oktober ein Studium aufzunehmen: „Mama, wir haben jetzt April. Wenn mein Urteil rechtskräftig wird, komme ich in die Strafhaft. Ich weiß nur nicht, in welche Anstalt. Jedenfalls, ich darf theoretisch ab Oktober in den offenen Vollzug. Ich möchte mich im Juli für den Studiengang Wirtschaftsinformatik bewerben, je nachdem, wo ich zum offenen Vollzug darf. Dann würde ich zwei Semester vom offenen Vollzug aus studieren und würde dann die vorzeitige Entlassung auf 2/3 der Strafe beantragen. Klingt doch gut, oder?“, schloss ich den Sermon über meine Pläne. Ich war begeistert von meinem Vorhaben. Doch meine Mutter zeigte mir, dass sie weder ein Optimist, Pessimist noch ein Realist war, sie war schlicht und ergreifend eines: religiös. „Insallah mein Sohn, so Allah es will!“, lächelte sie. Ich schauderte. So Allah es will? Passiert es also nur, wenn er es will? Aber das würde doch bedeuten, dass ich in Haft war, nur, weil Allah es so wollte? Dann war er ja der Schuldige: „Frau Richterin, es tut mir so leid was ich getan habe, aber Allah wollte das unbedingt. Er hat die volle Kontrolle über mich.“ Obwohl ich den Drang verspürte, dem Ganzen mit Sarkasmus zu begegnen, wollte ich meine Mutter nicht verletzen: „Amin, Mama, Amin.“ Die Religion war eines der zentralen Themen, die mich während der Haftzeit beschäftigten. Ich wusste ohne mein gewohntes familiäres und gesellschaftliches Umfeld plötzlich nicht mehr, wer ich war. War ich überhaupt noch gläubig? War ich einfach nur ein zeitweise nicht- praktizierender Moslem? Oder hatte ich der Religion bereits dauerhaft den Rücken gekehrt? Jahrelang hatte sich mir diese Frage nicht gestellt. Ich war immer zur Moschee gegangen, Punkt. Da hatte es nie Platz für Fragen, nie einen Gedanken des Zweifels gegeben. Ich war gefangen gewesen in einer Blase, abgeschieden von jeglicher Realität. Die ganzen Geschichten der Mithäftlinge über ihr bisher gelebtes Leben verunsicherten mich jedoch. Ich hatte ein völlig anderes Menschenbild, ein anderes von Gott und der Welt gehabt. Waren die Mithäftlinge nur ein „Extrem“ in der Gesellschaft und ich war das entgegen gesetzte „Extrem“, oder entsprachen sie, mal abgesehen von ihren Straftaten, der Norm? Ich konnte bisher mit niemandem über meine Zweifel in der Religion sprechen, es blieb bei unausgesprochenen Worten. Manchmal leugnete ich, dass ich gerade dabei war, den Glauben zu verlieren: „Emre, das ist der Teufel, der zu Dir spricht – alles nur wegen dieser Storys über weibliche Errungenschaften.“
Dies war ein sehr privates und für mich auch unangenehmes Thema: Körperliche Intimität mit dem anderen Geschlecht. Mein Leben lang wurde ich dazu erzogen, dass es keinen Sex vor der Ehe gibt, nicht mal geben kann. Doch das war weniger ein Problem. „Ihr dürft keine Frau zwei Mal ansehen, und erst recht nicht mit einem Begehren! Nicht mal die Hand berühren, vermeidet einen Handschlag mit einer Frau, sofern möglich. Und Selbstbefriedigung ist der direkte Weg in die Hölle“, so ungefähr lauteten die Anweisungen unseres Moscheelehrers, und er wurde nicht müde, diese zu wiederholen. Ich war fünf, als ich es das erste Mal hörte, und hörte es 15 weitere Jahre lang. Bis ich schließlich 20 wurde. Diese Aussagen hatte mich sehr geprägt und ich schaffte es einfach nicht, normal mit Frauen zu reden, geschweige denn mit ihnen zu flirten. Mir wurde beigebracht, dass es keine Freundschaft zwischen Mann und Frau gibt, dass es nur eine Art von Beziehung zwischen den beiden Geschlechtern geben kann: Die Ehe. Sonst ist da nichts. Sobald eine Frau mit mir sprach, dachte ich daran, dass sie „etwas von mir will“. Ich durfte doch gar keine Nicht- Muslima heiraten, wieso sollte ich dann mit solchen überhaupt ein Gespräch führen? Ich hatte also ein ausgesprochenes Frauenproblem, wenn man das so sagen darf. Mein Frauenbild entsprach dem, was die Religion mir beibrachte.
Und dann kam die Haft. Und damit auch die verschiedensten Facetten von Männern und deren Charaktern. Eines jedoch hatten sie (fast) alle gemeinsam: Sie alle hatten bereits etwas mit einer Frau gehabt. Geschichten, die das Frauenbild, welches ich bis dato gehabt hatte, gehörig zerstörten. Die geschlechtliche Vereinigung war auf einmal kein Tabuthema mehr. Ich erfuhr, dass Frauen auch nur Menschen waren mit gewissen Bedürfnissen – und ich realisierte eines: Wieso auch nicht, ich habe doch auch Triebe? Nur waren diese immer wieder unterdrückt worden. Ich habe in meiner Jugend etwas sehr Essenzielles verpasst, etwas, das für den Großteil der Jugendlichen normal war. Doch bereute ich es nicht wirklich, ich war nicht sauer, dass die anderen mit ihren Frauengeschichten prahlen konnten und ich der einzige war, der nicht mitreden konnte. Ich war vielmehr gespannt darauf, was mich in Zukunft erwarten würde. Neue Vorsätze, neue Grundsätze. Ich hatte hier einen derart intimen Einblick von so vielen verschiedenen Menschen erhalten, das würde ich niemals mehr in Freiheit zu Ohren bekommen – so dachte ich. Zugegebenermaßen ist es nicht sonderlich ruhmvoll, dass gerade das Thema „Frauen“ meine religiösen Ansichten ins Wanken brachte, doch es war nur der Auslöser für tiefergehende Reflexion.

Ich tat in der Haft etwas, wovor ich bisher immer Angst gehabt hatte: Ich hinterfragte meinen Glauben.
 

Metal_Warrior

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Ich hinterfragte meinen Glauben.

Ich glaube, das war für die Persönlichkeitsentwicklung wichtiger als der ganze Rest.

Was mich immer wundert: Woher kommt diese völlig absurde Haltung gegenüber Frauen in der muslimischen Welt? Aus dem Koran sicher nicht, zumindest nicht aus den ersten paar Hundert Seiten (weiter bin ich bislang nicht gekommen, er ist so wahnsinnig langweilig, weil repititiv).
 

Trolling Stone

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Hat er ja geschrieben: aus der Moschee von dem Imam wird das übermittelt. Warum? Patriarchat, das aufrecht gehalten werden möchte. Gewisse Dinge werden auch einfach nicht mehr hinterfragt.

Sehr gutes Kapitel btw.
 

BeSure

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Kapitel 52 - Allah ist der Größte

Der Besuch verging wie im Flug, nochmals die Hand von Oma küssen und dann ab mit dem Beutel voller Schokolade in die Zelle. Der Alltag war nicht viel spannender als in Schwäbisch Hall, morgens putzen, mittags Essensausgabe und nachmittags eine Stunde Freizeit, in der die Arbeiter duschen durften. Es war nicht viel Zeit, die Leute kennenzulernen. Ich als Alteingesessener wusste, dass es immer eine Weile brauchte, bis man von den anderen akzeptiert wurde. Einige wollten meine Unterlagen sehen, die ich schon auf meinem Tisch bereitgelegt hatte: „Geh in meine Zelle, sie liegen auf dem Tisch, kannst gerne durchlesen“, so winkte ich bei allen ab. Allein der Grieche kam mit meinen Unterlagen raus und machte einen extrem begeisterten Eindruck. Aufgeregt fuchtelte er mit meinen Gerichtsunterlagen vor mir herum: „Alter, bist Du der Mittäter von Flippi?“, „Äh, nein. Aber ich habe indirekt mit dem etwas zu tun gehabt. Wieso?“, fragte ich doch recht verwundert über seine Kenntnis dieses Pseudonyms. „Er war auch hier. Wurde vor kurzem entlassen, er hat auch die Deutsche Bahn betrogen.“ Das war ja mal interessant! Sowohl mein Bruder Cem, als auch Flippi, hatten sich zur selben Zeit hier in der JVA befunden. Ich überlegte laut: „Ja, also ich habe mit ihm nichts gemacht. Aber mein Bruder, der hat mit ihm wohl was gerissen, gemeinsammit einem gewissen ‚Dark‘. Mein Bruder wurde aber gestern entlassen, er war wegen des Verfahrens mit mir drin. Und ich glaube, der Flippi hat ausgepackt, deswegen wurde er wahrscheinlichentlassen. Ich habe das irgendwo in meinen Ermittlungsakten gelesen.“ Das Ganze schien ihn brennend zu interessieren, denn er wandte seinen Blick kein einziges Mal von mir ab. Ich erfuhr, dass sie Freunde geworden waren und er offenbar der Meinung war, dass Flippi ein korrekter Junge sei. Ich bewies ihm das Gegenteil, als wir die Unterlagen in meiner Zelle durchschauten und fündig wurden. Flippi war auch ein ziemliches Schlitzohr gewesen.
Ich vermutete, dass der Grieche wohl meine Eintrittskarte in die „Community“ sein würde. Er schien mir ganz intelligent zu sein: er stellte mich auch seinen Kollegen vor, die allesamt gute Jobs in der JVA innehatten, ganz anders als der Rest. Da war zum Beispiel Peter, der als einziger Häftling in der Bibliothek arbeitete, und zudem noch Student war – der erste, den ich bis dato gesehen hatte. Immobilienbetrug hatte er wohl begangen, d.h. Immobilien verkauft, die er nicht besessen hatte, womit er einen Millionenschaden verursacht hatte. Er hatte wohl im Duo agiert mit einem älterenrotschopfigenKollegen,welcher„nur“ wegen Steuerbetruges saß und mit dem Griechen die begehrten Stellen in der Kammer teilte. Ein weiterer Grieche, Andreas war sein Name, arbeitete in der Wäscherei. An sich erschienen mir diese Jungs als die sympathischsten und die mehr oder weniger Gebildeten des Stockwerks. Den Hofgang verbrachte ich mit Peter. Es war sehr angenehm, sich endlich mal mit einem auf der gleichen Wellenlänge zu unterhalten. Die Türkengruppe hatte ich auch bereits entdeckt, doch diese erschien mir seltsam – die Persönlichkeiten changierten zwischen total verrückt und, nett ausgedrückt, weniger intelligent. Ich begrüßte sie im Hofgang, als sie im Kreis auf der Wiese saßen und mich kurz willkommen hießen, indem sie die üblichen Fragen stellten. Einer aus der Gruppe der Türken erregte jedoch meine Aufmerksamkeit, da er im Vergleich zu den anderen ziemlich normal aussah und sprach. Er machte einen traurigen Eindruck auf mich und suchte gezielt das Gespräch mit mir. Er fragte mich sehr genau zu meinen begangenen Taten aus. Peter hatte sich derweil zu seinen Kollegen gesellt und ich drehte ein paar Runden mit einem Neuen, der ebenfalls Türke war und Belühl hieß. Als ich ihm abermals erklärte, wie ich meine Taten begangen hatte und er – wie andere auch – schockiert über mein Urteil war, musste ich ihn beruhigen: „Hey, keine Angst. Mach dich nicht verrückt, wegen eines Gerichtsverfahrens, dessen Termine noch nicht mal feststehen.“ Irgendwie erinnerte mich das Ganze an mich selbst, wie ich am Anfang dastand und wie viel Zeit seither vergangen war, sodass ich nun mein Urteil in Händen hielt. Behlül erklärte mir, dass er die Haft nicht aushalten würde (genau so war es mir auch gegangen), dass er Angst vor einer hohen Strafe hätte (auch hierbei fühlte ich mich stark an mich selbst erinnert) und endlich raus wolle – selbstverständlich. Seine Tat war jedoch unschön und seine Schilderungen nur unzureichend. Er drückte sie in einem ziemlich unglaubwürdig erscheinenden Satz aus: „Ich war betrunken mit Freunden in einer Bar, da muckt der eine Deutsche einfach so auf und ich hatte ein Messer dabei, hab ihm damit gedroht, er ist auf mich zu gerannt und in das Messer gelaufen.“ Ich war schon lange genug „dabei“, um zu wissen, dass jeder seine eigene Story verschönerte. Immerhin hatte ich damals auch kein Wort über meine Vorstrafen verloren. Doch Behlül beließ es nicht nur beim Verschönern, er ließ gleich viele entscheidende Details weg – und im Endeffekt warfen Details ein ganz anderes Licht auf die Taten. Ich ging jedoch gar nicht darauf ein, da es mir offen gestanden ziemlich egal war. Ich erzählte stattdessen von dem Besuch mit meiner Oma und, dass sie zuerst kein türkisch reden durfte. Behlül konnte dazu auch seine eigene Story erzählen: „Ich saß auch mit meiner Freundin im Besuchsraum und da war die türkische Beamtin, die uns überwacht hat. Ich habe dann gefragt, ob ich denn türkisch reden dürfe, da sie ja auch türkisch verstehe. Sie sagt dann einfach so: „Nein“, und ich so: „Wieso? Du bisch doch auch Türkin?“ und sie dann voll ernst so: „Nein, ich bin Deutschin.“ Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen in dem Moment und auch Behlül musste lachen: „Deutschin? Verstehst Du? Die sagt Deutschin? So dumm ey.“

Zurück vom Hofgang fragte mich Behlül, ob ich Lust auf einen Kaffee hätte. Wie man sich denken konnte, schlug ich das Angebot natürlich nicht aus. Die Voraussage meines alten Reinigerkollegen zu meiner Anfangszeit, dass ich in der Haft den Kaffee noch lieben lernen würde, hatte sich bewahrheitet. Ich war in der Haft mittlerweile koffeinsüchtig geworden. Wir sprachen über unsere Familien und über unsere Straftaten und so kam es, dass ich ihn immer wieder trösten musste. Er gehörte zu den weniger „stabilen“ Häftlingen. Er vertraute mir sehr viel Privates an, unter anderem auch, dass seine Mutter vor kurzem gestorben war. Das nahm mich sehr mit, denn es ließ mich an meine eigene Mutter denken. Eine meiner größten Ängste in der Haft war es, jemand Nahestehendes währenddessen zu verlieren und machtlos in der Haft festzusitzen. Irgendwie begann ich, Mitgefühl für ihn zu entwickeln und seine Niedergeschlagenheit übertrug sich auch auf mich.Mich überkam der Drang, ihn unterstützen und ihm helfen zu wollen, das Ganze durchzustehen. Mit meinen Erfahrungen, die ich nun über das Jahr gesammelt hatte, wollte ich ihn mit Schilderungen über Verhandlungen, die positiv ausgegangen waren, aufmuntern.

Die Türen waren geöffnet, und die Häftlinge durften alle duschen, weshalb sich Behlül nun auf den Weg zur Dusche machte – ich hatte dies schon vor meinem Besuch erledigt. Also begab ich mich in den Flur und schlenderte umher, als dann der Stockwerksbeamte auf mich zukam: „Sie dürfen sich nicht im Flur aufhalten.“ Ohne weitere Erklärung begab ich mich in meine Zelle, als ich von David aufgehalten wurde: „Hey Junge, mach das mal bitte in den Kühlschrank rein.“ Ich blickte ihn wohl etwas verdutzt an, denn er wiederholte seine Bitte, die eher einer Aufforderung gleichkam: „Jetzt schau nicht so blöd, in der Küche ist ’n Kühlschrank, da kommt es rein.“ Etwas Angst hatte ich schon vor ihm. Er kam selbstsicher und gefährlich rüber, und so nahm ich ohne weiteren Kommentar sein Essen an mich und legte es in den leeren Kühlschrank. Hakim befand sich in der Küche und war am Essen: „Was machst Du da?“, fragte er mich. „Ich tue das in den Kühlschrank für David“, entgegnete ich, als wäre das selbstverständlich. „Eigentlich darfst Du das nicht, da kommt nur das Abendessen rein, welches wir dann später ausgeben. Lass Dich vom Beamten nicht erwischen.“ Jetzt war ich verwirrt: „Ähm, dann gebe ich das dem David zurück?“, „Würde ich nicht machen, lass es drin.“ Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es Probleme geben sollte,weil wir den Kühlschrank verwendeten. Zudem hatte ich so gar keine Lust auf einen Konflikt mit David. Ich war zugegebenermaßen ziemlich davon beeindruckt, wie er mit den Beamten umging.

Die Nacht schlief ich das erste Mal wieder richtig gut. Trotz allem war ich sehr darüber erleichtert, endlich mein Urteil zu wissen. Am nächsten Tag stand bereits der nächste Besuch an: Meine Anwältin war da. Sie beschwerte sich über das Gericht, darüber, dass ich keine Strafmilderung bekam und, dass sie auf jeden Fall kämpfen will: „Herr Ates, wir sollten in Revision gehen! Sie haben eine Strafmilderung verdient! Die Vorsitzende hat den BKA Beamten der IT total ignoriert.“ Ich hingegen sah alles etwas gelassener und erzählte ihr von meinem optimistischen Kalkül: „… und dann studiere ich 2 Semester im offenen Vollzug.“Nach meinen Ausführungen überlegte sie kurz: „Herr Ates, ich kann es verstehen, dass es ihnen in der JVA Stammheim schlechter geht, als in Schwäbisch Hall. Das sehe ich ihnen auch an. Auch verstehe ich vollkommen, dass Sie endlich studieren möchten und, dass dies zu jeder Zeit Ihr Bestreben war. Doch Sie dürfen nicht außer Acht lassen, dass die Abschiebungsgefahr für Sie sehr real ist. Sie haben mehr als drei Jahre bekommen, die deutsche Staatsangehörigkeit verloren, dazu kommt, dass Sie keinen Aufenthaltstitel haben, Sie haben nur den türkischen Pass. Außerdem laufen noch zwei weitere Ermittlungsverfahren gegen Sie.“ Enttäuscht blickte ich sie an. Sie fuhr mit einem „Aber“ fort: „… wenn Sie möchten, werden wir folgendes tun: Ich lege Revision ein und rede mit der Staatsanwältin. Wir teilen ihr mit, dass Sie die Revision erst dann zurückziehen, wenn sie die Ermittlungsverfahren fallen lässt. Ich denke, das wird sie mitmachen, Sie haben ja bereits eine hohe Strafe erhalten. Was das Regierungspräsidium anbelangt, hoffen wir das Beste, ich kämpfe darum. Sie haben sonst alle nötigen Voraussetzungen, um in Deutschland bleiben zu dürfen.“ Das munterte mich zwar auf, doch bedeutete dies auch, dass ich noch für eine unbestimmte Zeit in Stammheim bleiben müsste. Und bei dem Gedanken daran bekam ich schlechte Laune. Die Tage vergingen undmit ihnen kam das große Warten: Der Brief von der Staatsanwältin bezüglich der Einstellung der Verfahren sollte wohl demnächst eintreffen. Derweil freundete ich mich mit Peter und Behlül besonders gut an. Hakim indessen legte ausgesprochen nervige Verhaltensweisen an den Tag: Er lästerte über jeden Häftling ab und lachte ihm dann geradewegs ins Gesicht. Osman, der dritte Reiniger, war vielmehr mit sich selbst beschäftigt. Er tat seine Arbeit, das war’s. David hingegen verlangte einige Male, dass ich für ihn kochte, während er duschen war. Auch das sei verboten worden sein, doch bisher beschwerte sich kein Beamter. Auch wenn ich mir blöd vorkam, für David zu kochen, war es mir das wert, der Konfrontation mit ihm auszuweichen. Als kochen würde ich das auch nicht bezeichnen, es war vielmehr das schnelle Anbraten von Dosenfleisch.

Es war ein Freitag, als der Stockwerksbeamter auf mich zukam: „Herr Ates, sie sind doch Moslem? Wollen Sie auch zum Freitagsgebet?“ Es war seltsam, mit welcher Inbrunst ich diese Fragen mit einem „Ja“ beantwortete – meinen inneren Konflikt zu der Zeit ignorierte ich vollkommen. Mir taten es viele türkische Mithäftlinge gleich, aber auch zahlreiche arabische Häftlinge waren vertreten, als wir gesammelt in den siebten Stock gebracht wurden. Da erblickte ich meine Zelle und tippte auf Behlüls Schulter: „Alter, schau. In der Zelle war ich anfangs. Die Beamtin hat gesagt, da war ein RAF Terrorist, der sich erhängt hat oder so. Und jetzt beten wir einfach mit 40-50 Leuten im Flur. Voll krass, gel?“ Ihn schien das wohl nicht sonderlich zu interessieren. Verwunderlich fand ich, dass es Unmengen an Gebetsteppichen gab, die ausgerollt wurden – die JVA Stammheim war ja sowas von tolerant, das hätte ich nie erwartet. Wir setzten uns auf die Teppiche, allerdings auf dem harten, kalten Boden. Beschweren konnte sich keiner, immerhin durften sie alle statt arbeiten zu gehen nun ihrem Glauben nachgehen. Ein Gefühl sagte mir aber, dass der Großteil von ihnen keinen blassen Schimmer vom Islam, der Religion, die sie ihr Eigen nannten, hatte. Dass ich das größte islamische Wissen besaß, machte mir der Imam in den nächsten Minuten mit einer Frage klar. Er war mittlerweile angekommen und fragte in die Menge, ob jemand denn Muezzin machen könnte. Dies ist der Aufruf zum Gebet. Jenes, das aus den Minaretten zu hören ist, und die Pflicht vor jedem Gebet darstellt. Keiner meldete sich, wohl aus dem Grund, weil es keiner konnte. Ich hingegen hatte das schon oft genug gemacht, und ich weiß nicht, welcher Teufel mich da geritten hat, doch ich streckte die Hand: „Ich kann das.“ Er nickte und gab mir den Befehl anzufangen. Es war ewig her, dass ich das getan hatte. Etwas aufgeregt war ich schon, doch ich wollte es wissen. Ich wollte wissen, was während des Aufrufs in mir vor sich geht.

„Allahu Ekber! Allahu Ekber!“
 

BeSure

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Kapitel 53 - Davids Eier

Ich bekam eine Gänsehaut, als ich den Ruf zum Gebet ausstieß. Mich überkam eine Flut an alten Erinnerungen, wobei ich nicht genau zuordnen konnte, ob diese positiver oder negativer Natur waren. Es war ein mulmiges Gefühl, das in mir eine Art emotionale Zeitreise hin zu meiner Jugend und Kindheit auslöste. In mir breitete sich ein Gefühl aus, welches seit langem nicht mehr so stark ausgeprägt war: das Heimweh. Ich hatte Sehnsucht nach meinem Zuhause, einer mir vertrauten Umgebung, meiner Familie, meinen Bekannten und Verwandten.

Die verschmutzten Duschen, die strengen Beamten und die angegrauten Wände der JVA Stammheim gingen mir gehörig an die Substanz. Es war zu düster hier, und so begann ich doch tatsächlich, die JVA Schwäbisch Hall zu vermissen. Ich wollte mich hier gar nicht einleben, doch allmählich hielt auch bei mir der Alltag Einzug. Morgens Tee, Brötchen und einen Aufstrich (Honig, Nutella oder Butter) verteilen und nach dem Abrücken der Arbeiter die Flure wischen. Der Putztag stand an – und wir mussten mal wieder die Zellen der Mithäftlinge sauber machen. Einer fegte voraus, ein anderer wischte mit dem Wischmopp hinterher. Noch immer hatte ich mich nicht daran gewöhnt, den anderen ihren Dreck hinterherzuwischen – womit einer weiterer Pluspunkt an die JVA in Schwäbisch Hall ging. Mittags gab es dann, wie üblich, die Essensausgabe: Die Arbeiter standen vor ihren bereits offenen Zellen, wir Reiniger gingen mit dem Beamten von Zelle zu Zelle und reichten das jeweilige Essen (Moslemkost, vegetarische Kost oder normale Kost). An dieser Stelle war viel Feinspitzengefühl gefragt. So gab es einen Albaner, die nicht wie erwartungsgemäß die Moslemkost wollte, sondern komplett auf Fleisch verzichtete. „Ich möchte die vegetarische Kost, mein Junge“, meinte der ältere Albaner, als ich ihm die Moslemkost in die Hand drückte. Es musste einfach schnell gehen, für Verzögerungen war keine Zeit. Ich spürte den Druck des Beamten, der am liebsten gleich alle Zellentüren so schnell wie möglich wieder zuschließen wollte. „Du bist doch Türke, du solltest es besser wissen! Das Fleisch, das die hier als Moslemkost ausgeben, ist sicher nicht helal!“, meinte der Albaner, bevor seine Zellentür zugeschlossen wurde. Der Beamte ermahnte mich, dass das Essen nicht für Späße da sei. Dennoch interessierte es ihn nicht, als wir bei David ankamen und dieser zwei Portionen verlangte. Seltsam, dass der Beamte gerade bei ihm wegsah, ein paar Zellen vorausging und so tat, als sei er grade schwer beschäftigt und nicht ansprechbar. Sowohl Hakim und Osman als auch ich gehorchten. Am Ende hofften wir einfach nur, dass irgendjemand kein Essen haben wollte. Meist ging die Rechnung auf – jemand verzichtete auf sein Essen – und im worst case verzichtete einer von uns Reinigern auf sein Essen. Problematisch war es dann nur, wenn David nicht unsere Moslemkost haben wollte, sondern auf die normale Kost bestand, denn wir drei Reiniger hatten alle nur Moslemkost. Beim Abendessen war es nicht anders, obwohl da sogar zwei Beamte dabei waren. Das Abendessen gab es nämlich nach dem Hofgang, wenn alle in ihren Zellen eingeschlossen waren. So ging ein Beamter stets vor und öffnete drei Zellen. Wir Reiniger kamen mit dem zweiten Beamten hinterher, welcher die Zellentür schloss, nachdem wir das Essen ausgehändigt hatten. Bei David war das natürlich wieder mal anders: Der voraus gehende Beamte ging meist fünf Zellen vor statt der üblichen drei, und der Beamte, der eigentlich neben uns bei der Essensausgabe stehen sollte, war seltsamerweise immer in Gespräche mit den Häftlingen der vorhergehenden Zellen verwickelt. So befanden sich die zwei Beamten stets in einem Sicherheitsabstand und konnten wegsehen. Mich als Reiniger beeindruckte dies natürlich, denn dieses Phänomen trat ausnahmslos bei allen Beamten auf – mit David war wohl nicht zu scherzen. Daher gab es für ihn dann auch beim Abendessen gerne mal doppelte Kost.

Neben der Essensausgabe gab es noch andere Aufgaben, wie das Abfüllen von Reinigungsmitteln, also Sanitärmittel und Seife, die dann zwei Mal die Woche, mitsamt der anderen Hygienemitteln, an die Häftlinge übergeben wurde. Wir hatten zudem dutzende Wischmopps, die wir dann in einem Wäschesack runter in die Wäscherei brachten, wo sie gewaschen wurden. Auch die Arbeitsklamotten sammelten wir ein und übergaben frische – hier gab es wenigstens selten Häftlinge, die normale Klamotten brauchten, vor allem keine Unterhosen – die meisten hatten private Klamotten. Es war in Schwäbisch Hall stets eine unangenehme Angelegenheit gewesen, die stinkenden Socken und die ekligen Unterhosen einzusammeln. Nach dem Abendessen durften alle erst einmal duschen und hatten quasi Freizeit. Ich musste stets hoffen, dass David nicht schon wieder etwas in der Küche lagern oder sich bekochen lassen wollte. Auch präventive Maßnahmen hatten nicht geholfen: Jedes Mal, wenn ich den Beamten bat, die Küche doch bei der Freizeit bitte zu schließen, ging er diesem Wunsch nach. Doch ebenso jedes Mal, wenn David in das Büro des Beamten ging, ging er wohl auch seinem Wunsch nach und öffnete die Küche wieder. Doch solange es dem Beamten egal war, dass ich für David in der Küche kochte, war es mir auch schnuppe. Es schien aber nicht allen egal zu sein – der Beamte Herr Groß hatte wohl ein Problem mit David.

Im Grunde genommen änderten sich die Beamten hier kaum. Es gab den Stockwerksbeamten Herrn Leder, der mich als Reiniger eingestellt hatte und der hier der Chef zu sein schien – er war wie Herr Winter aus Schwäbisch Hall für mich. Dann gab es den Herrn Groß, er kam mir vor, wie die rechte Hand von Herrn Leder. Beide waren öfter da und sehr streng. Einen Beamten wie Herrn Nils hatten wir auch in Stammheim: Herr Gleich, der irgendwie fehl am Platze war und die Rolle des gutmütigen Beamten übernahm. Eine hübsche, sportliche und junge Beamtin hatten wir auch des Öfteren – ihr Name war Frau Benz. Wenn sie arbeitete, herrschte eine viel fröhlichere Atmosphäre und sie begegnete jedem Häftling stets mit einem Lächeln, und so erinnerte sie mich stark an Frau Habich aus Schwäbisch Hall, nur mit deutlich weniger Parfüm. Es wunderte mich nicht, als Frau Benz mich einmal ansprach und vor David warnte: „Pass auf, der ist wirklich gefährlich.“

Noch immer wartete ich auf den Brief der Staatsanwältin mit den erlösenden Worten: „Die Ermittlungen gegen Sie wurden fallen gelassen.“ Doch seit Wochen kam nichts. Immerhin hatte sich endlich die Sozialarbeiterin gemeldet. Ich bekam einen Laufzettel und ging in ihr Büro, das sich einige Stockwerke weiter oben befand. Ich setzte mich hin und sie blickte mich in der Art an, wie sie es schon beim erstem Mal getan hatte: Als wäre ich ein minderwertiger Mensch. Auf ihre Frage, was sie denn für mich tun könne, antwortete ich mit Ausführungen meines langen Plans und erzählte, dass ich ab Oktober 2014 studieren wolle. Sie grinste nur überheblich und antwortete: „Herr Ates. So einfach, wie Sie sich das vorstellen, geht das nicht. Bevor Sie überhaupt für einen Freigang in Frage kommen, muss Sie die JVA, in die Sie zur Strafhaft verlegt werden, mindestens sechs Monate beobachten.“ Ich hatte es allmählich satt mit diesen Sozialarbeitern. Da fehlte definitiv ein großes „A“ vor deren Jobtiteln: „Ich war ein Jahr in der U-Haft in Schwäbisch Hall, die haben mich doch erlebt und sicherlich auch etwas notiert? Können die die Unterlagen nicht einfach an die JVA, in der ich zur Strafhaft verlegt werde, weiterleiten? Oder anrufen?“ Natürlich verneinte die Sozialarbeiterin alles und konnte mir keinen Grund nennen, weshalb es so nicht funktionieren sollte. Außerdem machte sie es mir zum Vorwurf, in Revision gegangen zu sein, da sich dies mit meinem Studiums-Vorhaben kreuzen würde. Meine Erläuterungen zu den weiteren Ermittlungen, die gegen mich liefen, zauberten ihr erneut ein auf mich extrem arrogant wirkendes Lächeln ins Gesicht: „Herr Ates, ich würde mal sagen, Sie warten jetzt ab, was passiert. Und wenn Sie in der Strafhaft sind, kontaktieren Sie den Sozialarbeiter dort. Ich kann Ihnen von hier aus nicht weiterhelfen.“ Ich bedankte mich dennoch höflich bei ihr, was mich jedoch nicht davon abhielt, mit einem inneren Tobsuchtsanfall mittlerer Stärke ihr Büro zu verlassen. Schnell verfasste ich einen Brief an meine Anwältin, mit der Bitte mir den Stand der Dinge mitzuteilen. Keine Woche später kam auch schon die ernüchternde Rückmeldung – die Staatsanwältin war noch nicht zu einer Entscheidung gekommen. Mit einer Revision, die durchgehen würde, könnten wir aber sicherlich mehr erreichen. So musste ich darauf hoffen, dass die Revision durchging oder die Staatsanwältin schon im Voraus die Ermittlungen einstellen würde.

Als ich mittags vor lauter Langeweile die Flure fegte, ertönte plötzlich ein lautes Alarmsignal aus einer Zelle, an der ich gerade vorbei fegen wollte. Manchmal befanden sich Häftlinge noch auf ihren Zellen und rückten nicht zur Arbeit an, z.B. wenn sie krank waren. Ich sah, wie der Beamte Herr Leder aus seinem Büro sprintete und die Tür aufschloss. Ich wurde Zeuge eines schockierenden Bildes: Ein Araber lag auf dem Boden und spuckte Blut – es hatte sich bereits eine Blutlache vor ihm gebildet. Sein Wimmern hörte sich an, als hätte er sich verschluckt und könne nicht atmen. „Sofort in die Zelle und abschließen!“, schrie Herr Leder mich an, als ich regungslos dastand. Ich schmiss den Besen auf den Boden, rannte zu den Zellen der beiden anderen Reiniger, stieß sie zu und knallte danach meine eigene Zellentür hinter mir zu – man musste sie nicht nochmals extra abschließen. Nach einer guten Stunde wurden wir wieder heraus gelassen: „Säubern Sie bitte die Zelle und räumen Sie sie aus“, befahl uns Herr Leder. Das Blut in der Zelle des Arabers war immer noch da – uns wollte man nicht erzählen, was passiert war. Am nächsten Tag fragte ich bei dem Beamten Herrn Gleich nach und war mir nicht sicher, ob seine Antwort der Wahrheit entsprach. So fragte ich zur Sicherheit ein weiteres Mal nach: „Er hat wirklich eine Rasierklinge geschluckt?“ Die Antwort von Herrn Gleich fiel kühl aus: „Ja, er wollte wahrscheinlich Aufmerksamkeit oder, dass man ihn nach Asperg verlegt.“ Da ich nicht wusste, was er mit Asperg meinte, erklärte er mir, dass dorthin Häftlinge verlegt wurden, die in einer normalen JVA nicht so einfach ärztlich betreut werden konnten – in Asperg hätte man ganz andere Mittel.

Die Tage vergingen, meine Eltern kamen und erzählten mir von Cem. Er genoss die Freiheit wohl sehr, war stets unterwegs mit unserer Schwester und auch die Bewährungshelferin sei zuversichtlich. Ich hing öfter mit Behlül ab, der häufig von seiner Schwester und seiner Freundin besucht wurde. Er zerbrach sich den Kopf über jede Kleinigkeit, was für mich der Grund für diese seltsame Lücke auf seinem Hinterkopf war: „Äh, Behlül, hast Du die Lücke auf deinem Hinterkopf bemerkt? Da fehlen ja einfach Haare?“, fragte ich und berührte die kahle Stelle. Er war überrascht und fasste sich dorthin: „Ach Du scheiße, wann ist das denn passiert?“ Ich musste lachen und wies meinerseits auf die Bartlücke, die ich schon immer mit mir herumtrug, hin: „Schau, ich habe auch eine Lücke am Bart, einfach so mittendrin.“ Er lachte nun auch: „Ja, das ist mir schon aufgefallen! Versuch mal, Knoblauch auf die Stelle zu reiben. Das soll anscheinend helfen.“ Das hatte ich auch schon mal gehört und probierte es natürlich sofort abends in meiner Zelle aus. Gleichzeitig stellte ich mir vor, wie Behlül nun seinerseits Knoblauch auf die kahle Stelle an seinem Kopf schmierte. Der Tipp schien nichts zu taugen, denn Wochen später wuchs an meiner Lücke noch immer kein Bart. Jedoch war mir das immer noch lieber als Behlüls Schicksal: Die kahle Stelle an seinem Hinterkopf wurde größer und größer. Langsam hatten wir Angst, dass er komplett kahl werden würde. Der Arzt meinte zu Behlül, dass es vom Stress käme. Ich versuchte, ihm zu helfen, indem ich ihm tagtäglich zuhörte und so dafür sorgte, dass er seine Ängste und Nöte mit jemandem teilen konnte. Seine Straftat kannte ich immer noch nicht ganz genau, er offenbarte jedoch von Zeit zu Zeit mehr Details: Das Messer, in welches das Opfer wohl „hineingelaufen“ sei, hatte Behlül nicht einfach so dabei gehabt – nein, im Gegenteil: Behlül war extra zum Auto gerannt, um das Messer zu holen. Ich verurteilte Behlül jedoch nicht dafür. Wir waren hier alle schuldig und hatten gegen das Gesetz gehandelt – es war selten der Fall, dass man jemanden für seine Taten verurteilen konnte, jeder musste sich erst an die eigene Nase fassen. Behlül war nicht der Einzige, der seine Straftat verschönerte, da gab es diesen Bill, der gerade einmal 19 Jahre alt war und auf einen älteren Mann fünf Mal geschossen hatte. Der Mann überlebte, wurde jedoch schwer verletzt. „Er hat meine Schwester vergewaltigt“, erzählte er jedem, wodurch natürlich viele ihm mit Verständnis entgegenkamen. Ich ertappte mich dabei, wie ich mir vorstellte, dass ich selbiges tun würde. Selbstjustiz war keinesfalls eine Lösung und ich wusste, dass niemand das Recht hatte, jemanden zu töten. Jeder hat ein gerechtes Gerichtsverfahren verdient – gerade ich sollte das wissen.

Doch dann kam die Ernüchterung: Wir hatten im Flur einen Tisch, auf dem die Beamten immer die aktuellste Tageszeitung auslegten. Peter hatte die Information zuerst in der Zeitung gelesen und sie machte schnell die Runde: „Der Bill hat den Typen wegen 2,000 EUR erschossen … uns hat er erzählt, dass er es wegen der vergewaltigten Schwester getan hat.“ Wie schnell sich Empathie in Unverständnis wandeln konnte, erlebte ich nun bei mir selbst – wie konnte man jemandem das Leben nehmen wollen, für nur 2,000 EUR? Er bekam die Höchststrafe, die man als Jugendlicher bekommen konnte: 15 Jahre.

In Stammheim schienen so einige wegen schwerer Körperverletzung zu sitzen, so auch Hassan. Er war Türke und hatte jemanden abgestochen – angeblich wegen seiner Freundin. Seine Story kannte ich noch nicht wirklich, doch er wurde sofort Reiniger: Osman wurde entlassen, er hatte wegen Steuerbetruges gesessen und durfte nun auf Bewährung raus. Hassan war ein gut gebauter Junge, doch umso größer seine Muskeln waren, desto kleiner schien das wichtigste Organ bei ihm zu sein: Das Gehirn. Er litt an Diabetes und musste sich stets Insulin spritzen. „Wenn ich unterzuckert bin, dann dreh ich durch – das war auch so, als ich den Jungen abgestochen habe.“ Eine Entschuldigung für seine Taten hatte wohl jeder parat. Doch bei ihm vermutete ich, dass sein Diabetes sogar als strafmildernd eingestuft werden würde – dies würde sich noch zeigen. Mit Hakim verstand sich Hassan gar nicht gut, der eine war sehr ernst, der andere irgendwie verspielt. Ich hoffte, dass Hassan die Sache mit David übernehmen oder gar klären konnte, doch auch er war überrascht von der „Macht“, die David innehatte. Ein weiterer Punkt, der mich hierbei schockte, war Davids Sonnenbrille. Er war der einzige Häftling in der Anstalt, der eine besaß. Und das, obwohl der Besitz einer Sonnenbrille strengstens verboten war. Als ich eines Tages wieder für David kochte, kam Herr Groß zu mir und erwischte mich dabei, wie ich das gekochte Essen an David übergab. Er ermahnte mich. Dann ging er zum Kühlschrank und wollte wissen, wem der Inhalt gehöre. Ich erzählte ihm die Wahrheit. „Es gehört David.“ Alle Reiniger sollten in das Büro und wir wurden allesamt ausgeschimpft. Hassan konnte es natürlich nicht ausstehen, dass er ebenfalls ermahnt wurde: „Emre, Du kochst nicht mehr für den.“ Ich bejahte und teilte dies David so mit. Doch ihm schien meine Meinung herzlich egal zu sein, er ignorierte meine Aussage einfach und verlangte auch weiterhin, dass ich für ihn koche. Völlig verzweifelt besprach ich dies mit Hassan und Behlül, wir wurden langsam ein eingespieltes Trio und verbrachten unsere Freizeit miteinander. „Wir müssen mit einem Beamten sprechen. Am besten mit Herrn Groß, die anderen machen sicher nichts.“ Das war die beste Lösung. Also gingen wir zu Herrn Groß und erzählten, dass wir wegen David unter Druck waren und dass er uns zu den verbotenen Dingen zwang. Wir hofften, dass David aufgrund dessen verlegt werden würde. Herr Groß meinte jedoch, dass er sich das notiert und wir ihm Bescheid geben sollten, wenn das wieder passiert. Wir warteten nicht lange, als es wieder passierte: David kam in die Zelle von Behlül, als wir zu dritt gemeinsam Kekse aßen und wollte, dass ich für ihn koche. „Die Küche ist geschlossen“, erwiderte ich. „Nein, Herr Groß hat sie geöffnet. Und jetzt hopp hopp, ich verhungere.“ Ich lief rot an. Das war doch nicht sein Ernst? Hassan kam mit mir in die Küche und wir waren verunsichert, was Herrn Groß anging: „Wieso macht er die Küche auf, wenn David es verlangt?“ Wir konnten wohl niemandem vertrauen. Die Beamten, die etwas zu sagen hatten, standen unter dem Einfluss von David. Und der Rest sowieso.

Wir waren gerade dabei, das Abendessen auszugeben, als ich in die große Brotbox griff und plötzlich eine Packung Eier sah. Sie war versteckt auf dem Boden der Brotbox. Schnell klopfte ich auf die Schulter von Hassan und erzählte ihm davon, während ein Beamter, den ich zuvor nie gesehen hatte, vorausging und die Zellentüren aufschloss. Diesmal war er alleine: „Hassan, wir müssen das dem sagen. Ich wette, das ist von David. Wenn das rohe Eier sind, sind wir geliefert. Dann sind wir den Job als Reiniger los.“ Hassan zögerte keine Sekunde: „Ja, auf jeden Fall.“ Wir hatten das komplette Essen verteilt und waren gerade dabei, den Abendessenswagen aufzuräumen, als Hassan in das Büro des Beamten ging. Hakim war zum Glück in seiner Zelle. Wir verteilten immer nur zu zweit das Abendessen, heute waren Hassan und ich dran. Ich war mir sicher, dass Hakim uns sonst verpfeifen würde. Hassan kam mit dem Beamten und wir zeigten ihm die Eier. Er war erstaunt. Ich bat ihm, niemandem zu sagen, dass wir ihm das mitgeteilt haben. „Wir wussten auch nichts davon“, meinte Hassan. Der Beamte sah sich die große Packung an: „Das sind doch sicherlich Eier, die für die Essensausgabe gedacht sind. Wieso habt ihr die nicht ausgegeben?“ Wir blickten einander an: „Ähm, die waren da versteckt. Ich glaube, das sind rohe Eier“, teilte ich ihm mit. Er hob beide Augenbrauen: „Rohe Eier?“ Er nahm ein Ei und legte es vor sich auf den Tisch, woraufhin er es anstupste, sodass es sich drehte.

Es hörte nicht mehr auf.
 

Trolling Stone

Troll Landa
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Ach schön, momentan haust du ja Kapitel für Kapitel raus.

Schöne Zeitabstände, bitte weiter so, wenn möglich. :T

--- [2018-01-02 02:22 CET] Automatisch zusammengeführter Beitrag ---

Ich verstehe eine Sache nicht so ganz: Wieso sind die rohen Eier so ein Problem?
 

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Para La Santa Muerte

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@Trolling Stone:

Rohe Eier sind ein sehr schnell verderbliches Lebensmittel und können daher gesundheitsgefährdend sein. Und ich denke man will nicht, daß faule Eier als Stinkbomben oder ähnliches mißbraucht werden können. Als ich in Haft war, durften Insassen auch keine Gewürze und dergleichen haben, weil man die als Blendpulver (besonders die scharfen) benutzen könnte.
 

T_Low_Benz

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Also jeder reagiert anders, aber wenn ich unterzuckere habe ich keine Kraft und Lust groß durch zu drehen :D
 
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